Marino Marini
Pferd, 1950
Anthropomorphe Ausdrucksgebärde in Pferdedarstellungen kommen sei Degas vor. Besonders Picasso hat sich dieser Darstellungsweise angenommen, zunächst als Opfer in Stierkampfszenen, spätestens seit der 'Guernica' von 1937 als Ausdruckschiffre für menschliche-kreatürliches Leiden. Hieran knüpft Marini an, nachdem er den Pferdekörper zunächst einmal von chinesischen und archaischen Vorprägungen her erarbeitet hatte, das Pathos zunächst von einem Reiter tragen lässt, danach um 1947 - in einem antithetischen Aufbau von Pferd und Reiter. Von Anfang an kommt ein moralisches Moment in die Darstellung, etwa in der Art der Zügelungsmetaphorik in Platons Gesprächen von Leib und Seele, wo das Pferd als Gleichnis bereits auftritt, aber auch in dem volkstümlicheren 'mit dem Pferden Durchgehen'. Hieraus ergibt sich auch der Gegensatz der Pferde Marinis zu denen von Picassos: Das Sterbliche und Verwundbare tritt hinter dem Vitalen zurück; im übrigen fehlen bildhauerische Pferdedarstellungen Picassos vor Marinis Rezeption. In dem Pferd von 1950, gelegentlich auch 'Großes Pferd' genannt, wird das zuvor im Gruppenmotiv von Roß und Reiter verteilte Rollenspiel von Leib und Seele auf das Pferd allein verlagert. Die Spannungen durchdringen jetzt den Pferdekörper selbst. Klage und Aufbäumen ohne Levade, allseitiges Stehen ohne Ruhe. Die Ponderation ist eher die eines Hofhundes, der seine Dynamik als Gefesselter erleidet, doch die Anatomie des Pferdes lässt keine Zweifel an der Tiergattung aufkommen.
Von einer rechteckigen Standfläche von keramikartiger Staubigkeit und Rauheit erhebt sich ein schlanker, kraftvoller Pferderumpf wie ein Tisch, über den Hals in einen stupfen Kopf nach oben endend. Die Allansichtigkeit ist gewahrt, auch die Aufsicht. Der Gegensatz von Grundfläche und plastisch herausragendem Gestaltzeichen verhilft aus allen Blickwinkeln zu einer dramatischen Deutung. Sosehr aber die Gestalt selber einem Kadaver ähnelt, fast bis zur Steifheit geschlachteter Tiere, kommen keine Zweifel am Leben auf, einem leidvoll erfahrenen Leben. Von Erregung, die abwehrende Gebärde gegen eine innere Wahrnehmung gerichtet. Wenn Angst eine Thematische Rolle spielt, dann eine solche vor der Auflösung von Integrität.
Die Oberflächenbehandlung bereitet bildhauerische Gepflogenheiten vor, wie sie sich später bei Wotruba (Seite 460) und in dessen Gefolge bei Hoflehner (Seite 220) anfinden: Die unziseliert stehen gelassenen Nähte der Schamotte-Einfassung der Gussform überziehen den Körper wie Reste eines Netzes aus Bindegeweben unter einer fortgerissenen Haut. Was hier den Effekt des Nackten und Bloßen, ja geradezu Enthäuteten steigert, wird unter Wotrubas Hand zu einer formalen Antithese zum plastischen Kern. Letztlich ging auch hierin Picasso allen voran, wenn auch eher im Sinne Wotrubas auf eine unassoziativ formulierende Weise. Entscheidend für die Wirkung hier ist, dass die eher zurückhaltende Patina keine neue Epidermis bildet. Der keramische Charakter herrscht wie auf der Standfläche, vor.