Anita Rée
Weiße Nussbäume, 1922–1925
Von 1922 bis 1925 lebte die Hamburger Künstlerin Anita Rée an der italienischen Amalfiküste in Positano. Wegen seiner eindrucksvollen Schönheit sowie der Nähe zu Städten wie Neapel, Salerno oder Pompeji war das Fischerdorf bereits in den 1920er-Jahren beliebt unter deutschen Kunstschaffenden. Zwischen Küste und Bergen an einem Steilhang gelegen, ist Positano ein »senkrechter Ort« mit pastellfarbenen, übereinander gestaffelten Häusern, verwinkelten Treppen und Gassen sowie einigen Kirchen, darunter Santa Maria Assunta mit einer vielfarbigen Majolikakuppel. Auf von Orangen- und Zitronenbäumen gesäumten Wegen erlebte Rée den Blick über das Dorf hinunter auf das blaue Meer, schaute aber auch von terrassierten Plätzen entlang kubischer Bauten hinauf zum Himmel. Diese charakteristische Drauf- und Untersicht erfasste sie in zahlreichen Zeichnungen und Aquarellen sowie in einigen Ölbildern, deren Verbleib größtenteils unbekannt ist.
Als ihr bedeutendstes Landschaftsbild erachtete Rée das Gemälde "Weiße Nussbäume": Anstelle einer weiten Ansicht wählte sie nun eine enge Straßenbiegung mit einem zentralen Haus als Motiv und erprobte dessen Details vorab in farbigen Aquarellen.1 Ihr Interesse galt nicht der Hanglage, der Pflanzenwelt oder den Einheimischen, die sie ansonsten gern in Szene setzte. Stattdessen entschied sich die Malerin für eine karge Darstellung in winterlich fahlen Farben, Nuancen von Weiß, Grau und Ocker, mit wenigen zarten Akzenten. Die zu Würfeln reduzierten Gebäude zeigen mit geschlossenen Läden nur Spuren menschlicher Präsenz. Umfangen werden sie von sich verästelnden Bäumen, deren natürliches Netzwerk mit der Baukunst zu wetteifern scheint. Treppen führen ins Nirgendwo oder enden vor Mauern, die Straße setzt sich im Hintergrund nicht eindeutig fort.
Anita Rée befasste sich mit der italienischen Frührenaissance, aber auch mit den Kunstströmungen ihrer Zeit und nahm wahr, wie Surrealismus, Pittura metafisica und Magischer Realismus das Traumhafte, Unbewusste, Absurde und Fantastische der Wirklichkeit thematisierten. In "Weiße Nussbäume" zeigte sie ihre Version einer rätselhaft-unheimlichen Welt, die sich der Alltagslogik verschließt.
Karin Schick
1 Vgl. Maike Bruhns mit Karin Schick und Sophia Colditz, Anita Rée. Das Werk, hrsg. v. d. Hamburger Kunsthalle, gefördert durch die Hermann Reemtsma Stiftung, München 2018, Nrn. A 60–A 62.