Roelant Savery
Felsklippen, 1606-07
Verso: Sehr flüchtige Skizze von Felsklippen
Die vorliegende Zeichnung ist neben einem in London verwahrten Blatt die einzig erhaltene Felsstudie Roelant Saverys.(Anm.1) Als Studie „naer ’t leven“ ist sie, dem vertikal geschichteten Gestein nach zu urteilen, vermutlich in den Tiroler Alpen entstanden.(Anm.2) Saverys Studienreisen in die Alpen wurden bereits von Joachim von Sandrart erwähnt: „Eben so große Erfahrung ließ er auch merken in Steinfelsen, Klippen, Rotzen, Bergen und Wasserfällen, dahero Kayser Rudolphus bewogen, ihn in Tyrol verschickt, um darinnern der Natur seltsame Wunder mehr zu erkundigen. Also zeichnete er alle schönste und verwunderlichste Gebürge und Thäler dieses Landes aufs fleißigste mit der Feder, die große Bäume mit Kohle, die weitaussehende Werke aber mit Wasserfarben in zweyen Jahren in ein grosses Buch, dass ihm hernach in seinen Landschaften sehr wol zu Nutzen kame …“.(Anm.3) Ausgehend von datierten Zeichnungen können diese Reisen zwischen 1606 und 1607 angesetzt werden.(Anm.4)
Der Begriff der Studie „naer ’t leven“ geht über die schlichte Naturaufnahme hinaus und lässt auch Raum für interpretierende Maßnahmen des Zeichners. Hier galt Saverys Interesse der erodierten, zerfurchten Oberfläche und den mitunter bizarren Konturen der Felsen,(Anm.5) die er durch freie Ergänzungen und untersichtigen Blickpunkt zusätzlich „dramatisierte“.(Anm.6) Einzelheiten wie die abgerundete Felspartie links wurden wohl nachträglich hinzugefügt, um den bildmäßigen Charakter zu unterstreichen.(Anm.7) Auch die farbige Ausarbeitung kann zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt sein.(Anm.8)
Isoliert von den turmartigen „Aufbauten“ und nach links in die Schräge gedreht, griff Savery für eine um 1606 gemalte „Hirschjagd“ zurück auf das Felsentor und den kantigen Gesteinsblock mit der spitz vorspringenden „Nase“ rechts.(Anm.9) Ein ähnlicher Rückgriff lässt sich für ein grundsätzlich vergleichbares Gemälde in Wien beobachten, das auf eine in Paris verwahrte Felsstudie zurückgeht.(Anm.10)
Darüber hinaus konnte Spicer das Motiv der Hamburger Studie, nur geringfügig ausgeschmückt, auf einem Gemälde des Abraham Willaerts (um 1603/04–1669) identifizieren, der mit derartigen Zitaten seinen Küstenlandschaften exotisches Flair verlieh.(Anm.11)
Annemarie Stefes
1 London, Victoria & Albert Museum, Inv.-Nr. Dyce 512, Joaneath Ann Spicer-Durham: The Drawings of Roelandt Savery, New Haven,Yale, Univ., Diss. 1979, Nr. C 63.
2 Vgl. Joaneath Ann Spicer-Durham: The Drawings of Roelandt Savery, New Haven,Yale, Univ., Diss. 1979, S. 460; Ketelsen, in: Im Blickfeld. Böhmen liegt am Meer. Die Erfindung der Landschaft um 1600, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1999, S. 30.
3 Joachim von Sandrart, A. R. Peltzer (Hrsg.): Joachim von Sandrarts Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste von 1675: Leben der berühmten Maler, Bildhauer und Baumeister, München 1925, S. 175.
4 Joaneath Ann Spicer-Durham: The Drawings of Roelandt Savery, New Haven,Yale, Univ., Diss. 1979, S. 34 u. 54.
5 Für die Wahl des Motivs mag Saverys Prägung durch Joachim Patinir und zuletzt Pieter Bruegel (I) maßgeblich gewesen sein, vgl. Mielke, in: Pieter Bruegel als Zeichner, Ausst.-Kat. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Berlin 1975.
6 Joaneath Ann Spicer-Durham: The Drawings of Roelandt Savery, New Haven,Yale, Univ., Diss. 1979, S. 55.
7 Joaneath Ann Spicer-Durham: The Drawings of Roelandt Savery, New Haven,Yale, Univ., Diss. 1979, S. 460.
8 Vgl. Ketelsen, in: Im Blickfeld. Böhmen liegt am Meer. Die Erfindung der Landschaft um 1600, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1999, S. 16. Mit der Verwendung von Aquarellfarben entfernte sich Savery von seinen Vorgängern Pieter Bruegel (I) und Hendrik Goltzius, vgl. Joaneath Ann Spicer-Durham: The Drawings of Roelandt Savery, New Haven,Yale, Univ., Diss. 1979, S. 68.
9 Standort unbekannt, Müllenmeister 1988, Nr. 75. – Zu den teilweise an menschliche Physiognomien erinnernden Formen und den darin verborgenen Anklängen an Wunderkammer-Objekte vgl. Joaneath Spicer: A Pictorial Vocabulary of Otherness. Roelandt Savery, Adam Willaerts, and the Representation of Foreign Coasts, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 48, 1997, S. 23-51, S. 147.
10 1610, Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv. Nr. GG 957, Müllenmeister 1988, Nr. 53; Paris, Fondation Custodia, Inv.-Nr. 4783, Karel G. Boon: The Netherlandish and German Drawings of the XVth and XVIth Centuries of the Frits Lugt Collection, 3 Bde., Paris 1992, Nr. 172. Vgl. auch die untere Felsgruppe auf den „Hummerfischern vor einer Steilküste“, 1608, Gent, Stedelijk Museum voor Schone Kunsten, Inv.-Nr. 1955/A, Kurt J. Müllenmeister: Roelant Savery 1576-1639. Hofmaler Kaiser Rudolf II. in Prag. Die Gemälde mit kritischem Œuvrekatalog, Freren 1988, Nr. 50.
11 „Holländische und Englische Schiffe vor felsiger Küste“, 1647, Haarlem, Frans Hals Museum, Inv.-Nr. OS I-746, Joaneath Spicer: A Pictorial Vocabulary of Otherness. Roelandt Savery, Adam Willaerts, and the Representation of Foreign Coasts, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 48, 1997, S. 23-51, Abb. 8; vgl. ebd. S. 23–25 und 28. Vgl. auch die eng verwandte Komposition eines Gemäldes von 1641 in Kopenhagen, Statens Museum for Kunst, Inv.-Nr. KMSsp441, ebd. S. 47, Anm. 32.