Paul Klee
Kunstvoller Hirschgarten, 1923
Die luftige Federzeichnung „Kunstvoller Hirschgarten“ von 1923 erinnert mit ihrem feinen Strich und den an Drahtfiguren erinnernden Strukturen entfernt an gleichzeitige Arbeiten des Bildhauers Alberto Giacometti. Klee gestaltete im Laufe des Jahres 1923 eine ganze Gruppe von Tierzeichnungen, die stets ein raumgreifendes Raster als Standfläche der Figuren variieren. Neben dem Blatt „Kunstvoller Hirschgarten“ tragen die Kompositionen Titel wie „Kreuzungen“( WVZ 3285) – hier taucht nochmals das Motiv des Hirschs auf -, „Dressierte Wildpferde“ (WVZ 3288), „Wieder eine Tierdressur“ (WVZ 3289) und „Noch eine Tierdressur“ (WVZ 3290). Das Thema der Dressur, der Vorgabe von geregelten Bewegungsabläufen scheint den Künstler dabei bewegt zu haben. Das Raster ist also ein die Figuren einengendes und bedrängendes Korsett. Auch die beiden Hirsche des Hamburger Blatts sind ihrer natürlichen Umgebung entrissen, sie dienen als Chiffren ihrer selbst und sind einer von Menschenhand geschaffenen, künstlichen Umgebung einbeschrieben. Rechts vorn bleibt nur ein Drahtgerüst mit Hirschgeweihen an den oberen Ecken übrig, das Tier scheint abstrahiert bzw. fast gänzlich eliminiert. Eine Deutung der Zeichnungen Klees ist jedoch immer nur eine aus der eigenen Anschauung gewonnene, vorläufige Annäherung, die den Bild- und Sprachwitz des Künstler berücksichtigen muss.
Im Jahr der Übersiedlung des Bauhauses von Weimar nach Dessau entstand das auf den 3. Dezember datierte Blatt „Grotesken aus d. Circus V“. Die drei Artisten scheinen wie aus Stacheldraht modelliert zu sein Links vorn ein kleinwüchsiger Clown mit hohem, federgeschmückten Zylinder auf dem Kopf, seine Hände gestikulieren wild, seine Beine sind in schneller Bewegung, rechts neben ihm ein zweiter, diesmal sehr großer, dünner Komödiant mit verschränkten Unterschenkeln und einem hoch aufsteigendem eckigen Ballon am rechten Daumen. Über den beiden eine leichtgewichtige Drahtseilartistin mit einer pflanzlich anmutenden Ausgleichsstange zum Balancieren, jedoch ohne das notwendige Seil, so dass die angedeutete Räumlichkeit von oben und unten sowie vorn und hinten, innerhalb der die drei Figuren agieren, schlagartig relativiert wird. Die Artisten strahlen eine unglaubliche Leichtigkeit aus, die jedoch durch die dominanten, suchenden und kurzen Striche der Zeichnung konterkariert wird.
Besonders interessant ist die ebenfalls am 3. Dezember 1925 entstandene Zeichnung mit dem Titel „Ländlicher Hanswurst“. In Frontalansicht steht dem Betrachter die Figur eines Kaspers mit hinter dem Rücken verschränkten Armen gegenüber. Sein Gesicht ist von Bartstoppeln übersäht, auf seiner spitzen federgeschmückten Mütze steckt ein kleines Fähnchen. Die schmale hochformatige Zeichnung ging in ihrer Entstehung dem Blatt „Grotesken aus d. Circus V“ unmittelbar voraus. Diese enge künstlerische Verbindung zeigt sich nicht nur in dem der Welt des Zirkus entnommenen Motiv, sondern auch in der Art der zeichnerischen Gestaltung. In beiden Kompositionen kombinierte Klee die kurzen, wie Schnitte gesetzten Striche, die an Stacheldrahtskulpturen erinnern, mit den in verschieden dunklen Tönungen pointiert genutzten Pinsellavierungen in rechteckigen oder gar quadratischen Grundformen. Klee griff 1931 auf diese Komposition in Feder und Pinsel für seine seltene Radierung „Stachel der Clown“ zurück, die nur in einer Auflage von 20 Exemplaren gedruckt wurde; einer der Drucke befindet sich in der Sammlung des Kupferstichkabinetts (Exemplar 20/20; Inv. Nr. 1949/409). Nur in wenigen Fällen kann man so exakt die eigenhändige Umsetzung einer Zeichnung Klees in die Druckgraphik nachvollziehen. Beide Arbeiten nebeneinander bilden eine künstlerisch ungewöhnlich starke Werkgruppe.
Der traditionell hervorragende Bestand von Werken Paul Klees in der Hamburger Kunsthalle, der nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut werden konnte - 4 Gemälde, 9 Zeichnungen und Aquarelle sowie 11 Druckgraphiken aus allen Schaffensperioden von 1904 bis zum Todesjahr 1940 - erfährt mit dem Neuerwerb dieser drei, aus einer bedeutenden kanadischen Privatsammlung stammenden Zeichnungen eine hervorragende Aufwertung.
Andreas Stolzenburg
Details about this work
Beschriftung: Oben links signiert: "Klee" (Feder in Schwarz); oben links datiert: "1923 3/12" (Bleistift); Karton versehen mit Randleisten oben und unten (Feder in Schwarz); Karton unten in der Mitte bezeichnet: "1923 226 Kunstvoller Hirschgarten" (Feder in Schwarz; unterstrichen)
WVZ Klee 3320,
Paul Klee (1879 - 1940), Bern, 1923 - 1940 (1); Vererbt an Lily Klee, Bern, 1940 – 1946 (2); Ankauf von dort durch Werner Allenbach, Bern, höchstwahrscheinlich ab 1946 – 1952 (3); Ankauf von dort durch die Galerie Rosengart, Luzern, 1952 – ca. 1953 (4); Ankauf von dort von Peridot Gallery, New York, 1953 - ? (5); [...] (6); Joseph Solman, ? - 1973 (6); Zuerst in Kommission übernommen (1972), schließlich Ankauf von dort von Serge Sabarsky, Inc., New York, 1972 - 1973 (7); Ankauf von dort von Walter und Jeanny Bick, Richmond Hill, Kanada, 1973 - ? (8); [...] (9); Kunsthandel Wolfgang Werner, Bremen/Berlin, spätestens ab 2003 – 24.8.2004 (10); Ankauf von dort durch die Stiftung Hamburger Kunstsammlungen, 24.8.2004 (11); seitdem Dauerleihgabe an die Hamburger Kunsthalle
1) Auskunft von Eva Wiederkehr und Marie Kakinuma vom Paul Klee Zentrum Bern.
2) Auskunft von Eva Wiederkehr und Marie Kakinuma vom Paul Klee Zentrum Bern.
3) Paul Klee. Catalogue raisonné, hrsg. von der Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern, Bd. 4 (1923-1926), 9 Bde, Bern 2000, S. 137, Nr. 3320. Werner Allenbach war Kunstsammler und einer der vier Klee-Gesellschafter. Auskunft von Eva Wiederkehr und Marie Kakinuma vom Paul Klee Zentrum.
4) Paul Klee. Catalogue raisonné, hrsg. von der Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern, Bd. 4 (1923-1926), 9 Bde, Bern 2000, S. 137, Nr. 3320. Auskunft Eva Wiederkehr Sladeczek, 2020: Angela Rosengart habe hierzu mündlich im Juni 1999 der Klee-Stiftung die Auskunft erteilt.
5) Paul Klee. Catalogue raisonné, hrsg. von der Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern, Bd. 4 (1923-1926), 9 Bde, Bern 2000, S. 137, Nr. 3320. Auskunft Eva Wiederkehr Sladeczek, 2020: Laut mündl. Auskunft von Angela Rosengart an die Paul Klee-Stiftung, Bern (Juni 1999).
6) Bislang unbekannte Provenienz/en.
7) Paul Klee. Catalogue raisonné, hrsg. von der Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern, Bd. 4 (1923-1926), 9 Bde, Bern 2000, S. 137, Nr. 3320. Auskunft von Marie Kakinuma vom Paul Klee Zentrum Bern: Schriftliche Auskunft von Serge Sabarsky, Inc., New York an die Paul Klee-Stiftung, Bern (Februar 1998), heute: Zentrum Paul Klee, Bern, Archiv.
8) Paul Klee. Catalogue raisonné, hrsg. von der Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern, Bd. 4 (1923-1926), 9 Bde, Bern 2000, S. 137, Nr. 3320. Auskunft von Marie Kakinuma vom Paul Klee Zentrum Bern: Schriftliche Auskunft von Serge Sabarsky, Inc., New York an die Paul Klee-Stiftung, Bern (Februar 1998), heute: Zentrum Paul Klee, Bern, Archiv.
9) Bislang unbekannte Provenienz/en.
10) Inventarbuch Kupferstichkabinett 1997 - 2009, S. 261f. Archiv Stiftung Hamburger Kunstsammlungen: Ordner „SHK KUR-Sitzungen 2012 inkl: Erwerbungen + Orig-Rechng.! 2013“: Erwähnung Paul Klee (drei Zeichnungen).
11) Inventar Kupferstichkabinett 1997 - 2009, S. 261. Die Ankaufssumme für die Inv. Nr. 2004-25, 2004 -26 und 2004-27 belief sich zusammen auf 180.000 Euro.
Ein Dank für Auskünfte hinsichtlich der Provenienz geht an Wolfgang Werner vom Kunsthandel Wolfgang Werner KG, Bremen/Berlin, an Eva Wiederkehr und Marie Kakinuma vom Paul Klee Zentrum in Bern.
Stand: 21.4., 24.4.2020, Ute Haug; 15.02.2024, Ute Haug
Status: geklärt, unbedenklich.
Die Provenienz dieses Werkes konnte im Rahmen des gemeinsam von der Stiftung Hamburger Kunstsammlungen, Hamburger Kunsthalle und dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, Magdeburg, finanzierten Projektes "Erforschung der Werkprovenienzen der Kunstwerke mit ungeklärter bzw. bedenklicher Herkunft im Eigentum der Stiftung Hamburger Kunstsammlungen, die sich als Dauerleihgabe in der Hamburger Kunsthalle befinden." (siehe: https://www.hamburger-kunsthalle.de/forschungsprojekt-werkprovenienzen-zu-dauerleihgaben-im-eigentum-der-stiftung-hamburger) erforscht werden.
Zitierweise nach folgendem Schema: Künstlername, Werktitel, Inv. Nr., Provenienz und Link, sowie Name Bearbeiter*in, letzter Stand und Zugriffsdatum.
Cite according to the following scheme: artist's name, title of work, inv. no., provenance and link, name of editor, last status, as well as date of access.
Haben Sie Fragen, Kritik, Anregungen, weiterführende Informationen? Bitte richten Sie eine Nachricht an Dr. Ute Haug unter ute.haug[at]hamburger-kunsthalle.de.
Do you have questions, criticism, suggestions, and further information? Please send a message to Dr. Ute Haug at ute.haug[at]hamburger-kunsthalle.de.
Paul Klee. Catalogue raisonné, Herausgeber: der Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern, 2000, S. 137, Abb. S. 137, Abb.-Nr. , Kat.-Nr. 3320
Kunst für Hamburg. Von laut bis leise. 50 Jahre Stiftung für die Hamburger Kunstsammlungen; Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg und Hamburger Kunsthalle, S. 262-263, Abb., Abb.-Nr.
150 Jahre Hamburger Kunsthalle. Die Ankäufe der Stiftung Hamburger Kunstsammlungen, Herausgeber: Stiftung Hamburger Kunstsammlungen, 2019, S. 190-191, Abb., Abb.-Nr.
1923 - Gesichter einer Zeit, Hauptautor: Au, Juliane; Weiterer Autor: Himmelmann, Gabriele , 1962-
; Ludwig, Florian (VerfasserIn); Weiterer Autor: Schick, Karin , 1968- ; Weiterer Autor: Steinke, Jan
; Stolzenburg, Andreas , 1963- (VerfasserIn); Hamburger Kunsthalle (Herausgebendes Organ); Weiterer Autor: Florian Ludwig; Weiterer Autor: Karin Schick; Weiterer Autor: Jan Steinke; Weiterer Autor: Andreas Stolzenburg; Hamburg, S. 90-91, Abb., Abb.-Nr.