Alberto Giacometti
Stehende, 1948/49 (Guss von 1952/53)
Unnahbar und majestätisch wie eine archaische Gottheit erscheint die Stehende – und zugleich faszinierend präsent. Optisch fest im Boden verankert durch den übergroßen Sockel, bietet die Skulptur dem Blick einen aufregenden Weg bis hoch hinauf zum kleinen, entrückten Haupt: Alle wesentlichen Körperkennzeichen finden sich in der rauen Oberfläche, deren Lebendigkeit mit der Regungslosigkeit und hierarchischen Frontalität der Haltung kontrastiert. Ab 1947 schuf der Graubündner in Paris, wo er im Louvre die ägyptischen Statuen bewunderte, die ersten überlängten Figuren. Sie wurden in ihrer überzeitlichen und zugleich zerbrechlichen Wirkung typisch für sein reifes Werk. In der Spannung zwischen aufrechter Haltung, fragilem Aufragen und scheinbar dürftiger Materialität kann man eine Entsprechung sehen zur Bedingung des Menschseins zwischen Würde und Verletzbarkeit. Mit der äußersten Reduktion gestaltete Giacometti ein Menschenbild, in dem sich die traumatisierte Nachkriegsgeneration erkannte.
Annabelle Görgen