Otto Dix
Mutter und Kind (Frau mit Säugling), 1924
Nach traumatischen Jahren an der Kriegsfront begann für Otto Dix 1919 mit dem Kunststudium in Dresden und später in Düsseldorf eine Zeit der Erfolge: Er fand Künstlerfreunde, etwa den gleichgesinnten George Grosz, knüpfte Kontakte zu Galeristen und erregte mit seinen Werken Aufsehen - Ende 1924 gar mit einer Einzelausstellung im Berliner Kronprinzenpalais. Rasch avancierte Dix zum Protagonisten einer schonungslos realistischen Malerei, die als „Neue Sachlichkeit“ bekannt wurde. In seinen Bildern wandte er sich der krisenhaften, leidvollen Nachkriegswirklichkeit zu, stellte Krüppel, Witwen, Arbeiter und Prostituierte dar. Zugleich führte er den wohlhabenden Spießbürger vor und verlieh den Goldenen Zwanzigern schillernden Glanz. Die Widersprüche seiner brüchigen Gegenwart fasste er in eine aufwändige Lasurmalerei, die gar nicht modern, sondern altmeisterlich anmutete.
Um 1923 - dem Jahr, in dem sein erstes Kind Nelly geboren wurde - widmete sich Dix mehrfach dem Motiv der schwangeren Frau oder der Mutter mit Kind. Erneut entnahm er es der Realität, erinnerte aber auch an Darstellungen Mariens mit Jesus auf dem Schoß. Sein Gemälde "Mutter und Kind" präsentiert eine junge Frau mit zart besticktem Kragen, filigranem Haarkamm und vollen Brüsten. Sie könnte dem Bürgertum angehören, doch zeigen ihre versehrten Hände von harter Arbeit und ihr erschöpfter Blick ist in die Ferne gerichtet, nicht auf das wohl eben erst gestillte Kind. Der Säugling ist zwar sorgsam bekleidet und gekämmt, aber von Krankheit oder Mangelernährung gezeichnet und zeigt ebenfalls keine emotionale Regung. In einer Zeit von Verelendung, gesellschaftlichen Gegensätzen und sich emanzipierenden, berufstätigen Frauen wurden Idealbilder von Mutterschaft in Frage gestellt und die (ungewollte) Schwangerschaft zu einem zentralen Thema.1 Dix wies auf die soziale Wirklichkeit hin, gab sie aber nüchtern wieder, ohne Stellung zu beziehen.
Diese Mutter sitzt mit ihrem Kind vor Ruinen, auf der verfallenen Mauer wachsen Efeu und blühende Gräser einem blauen Himmel entgegen. Aussichtslosigkeit und Hoffnung auf eine bessere Zukunft sind in dem doppelbödigen Bild vereint.
Karin Schick
1Vgl. Jung-Hee Kim, Frauenbilder von Otto Dix. Wirklichkeit und Selbstbekenntnis, Münster 1994, darin bes. Kapitel 4.3. »Thema Mutter mit Kind«.