Caspar David Friedrich
Ziehende Wolken, um 1820
Im kleinsten Format stellte sich Friedrich hier der schwierigen Aufgabe, einen Ausblick in die Landschaft mit dessen Verunklärung durch Wolkenbänke zu verbinden, die das Bildfeld durchziehen. Mutet das Gemälde auf den ersten Blick wie eine spontan eingefangene Ölskizze an, entpuppt es sich bei genauerer Betrachtung als überaus kalkulierte, planmäßig angelegte Komposition von einer enormen Raumhaltigkeit. Unmittelbar hinter der Bildschwelle sind Geröllfelder zu sehen. An diese schließt sich eine Bergwiese an, in die ein kleiner Teich eingebettet ist. Dahinter fällt das Gelände ab und staffelt sich über die von rechts ins Bild ragenden Bergrücken weiter in den Hintergrund. Die Horizontlinie ist erst im oberen Viertel des Gemäldes auszumachen. Von Wolkenloch zu Wolkenloch springend, kann das betrachtende Auge über Taler und Erhebungen imaginär bis in den entferntesten Hintergrund wandern. Für die Anlage des Bildes griff Friedrich auf eine Zeichnung zurück, die er im Sommer 1811 auf seiner Harzwanderung geschaffen hatte und die aller Wahrscheinlichkeit nach den Blick vom Brocken zeigt. (1) Bereits in diesem Blatt hat der Künstler mittels eines durchgehenden waagerechten Bleistiftstrichs samt der Hinzufügung des Wortes »Horizont« dessen genaue Lage definiert. (2)
Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Werke scheint Friedrich mit diesem Bild auf keine sinnbildliche Überhöhung des Dargestellten abgezielt zu haben. Vielmehr wirkt es so, als habe er es sich in erster Linie zur Aufgabe gemacht, das Phänomen der ziehenden Wolken vor einem partiell sichtbaren landschaftlichen Tiefenraum möglichst überzeugend umzusetzen. Über die Wolken als Hauptgegenstand der Komposition findet auch der Faktor der Zeit Eingang in unseren Rezeptionsvorgang. Womöglich imaginieren wir trotz des statischen Mediums des Bildes das dynamische, bewegte Geschehen am Himmel, machen uns aber angesichts der sichtbaren Pinselstriche gleichzeitig bewusst, dass es sich hierbei nicht um die Illusion eines Naturerlebnisses, sondern dessen Übersetzung in ein Kunstwerk handelt. (3)
Markus Bertsch
(1) Christina Grummt, Caspar David Friedrich. Die Zeichnungen. Das gesamte Werk, München 2011, Bd. 2, S. 632 f., Nr. 654. Vgl. auch Helmut Börsch-Supan und Karl Wilhelm Jähnig, Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen, München 1973, S. 365 f. Wenngleich in der Forschung keine Einigkeit darüber besteht, dass es sich auch wirklich um den Blick vom Brocken handelt, spricht aufgrund von Friedrichs eigenhändiger Beschriftung (»Brocken den 29t Juni 1811«) doch einiges dafür. Zur topografischen Situation vgl. Herrmann Zschoche, Caspar David Friedrich im Harz, Dresden 2000, S. 63.
(2) Grummt 2011, Bd. 2, S. 632. In Friedrichs Skizzenbüchern findet sich die Verwendung des Wortes »Horizont« seit 1807 regelmäßiger. Dazu sowie zur Bedeutung dieser Notate vgl. Werner Busch, Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003, S. 82.
(3) Johannes Grave, Bild und Zeit. Eine Theorie des Bildbetrachtens, München 2022., S. 52 f.