Paolo Fidanza, Radierer
Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler, Erfinder

Kopf eines jungen Mannes aus der "Disputà", um 1760

Aus: "Teste scelte di personaggi illustri [...]", Tafel 35

Es spricht für die enorme Wirkung der Wandmalereien der Stanza della Segnatura, dass nicht nur zahlreiche Gesamtdarstellungen, sondern auch viele Details reproduziert wurden. Vor allem im 18. Jahrhundert gab es enorme Anstrengungen, die Köpfe der dargestellten Philosophen, Kirchenlehrer, Dichter und Künstler einem offenbar dafür aufgeschlossenen Publikum nahe zu bringen. Es darf daran erinnert werden, dass im späten 18. Jahrhundert in Europa – u. a. stark befördert durch Johann Caspar Lavater – ein enormes Interesse an Physiognomien und deren Deutung herrschte.

Zu den frühesten Beispielen dieses Phänomens zählen die Publikationenvon Paolo Fidanza. Dieser hatte sich bereits in den 1750er Jahren intensiv mit Raffael befasst, als er in kurzer Folge Radierungen nach dem Parnass, der Messe von Bolsena und dem Borgo-Brand vollendete. Während dieser intensiven Beschäftigung dürfte Fidanza die Idee gekommen sein, die vielen ausdrucksstarken Köpfe auf den Stanzen-Wandbildern gesondert herauszugeben. Als beeindruckendes Resultat erschienen dann von 1757 bis 1766 die TESTE SCELTE DI PERSONAGGI ILLUSTRI […] (Ausgewählte Köpfe von berühmten Persönlichkeiten) bzw. als CONTINUAZIONE DELLE TESTE […] in sechs Bänden mit nicht weniger als 216 Blättern. (Anm. 1) 1785 erschien eine französische Ausgabe mit 180 Blättern. Innerhalb dieser umfangreichen Gruppen befinden sich nicht nur Reproduktionen nach den Stanzen, sondern auch nach Gemälden Raffaels, etwa der Verklärung Christi. Vereinzelt sind auch Werke anderer Künstler wie Sebastiano del Piombo oder Guido Reni nachweisbar.

Fidanza ist als Graphiker bislang wenig erschlossen, was womöglich auch mit der heftigen zeitgenössischen Kritik an seinen Werken zusammenhängen mag. So bewertete etwa Pierre-Jean Mariette Fidanzas Radierungen sehr negativ, wobei er vor allem deren allzu trockene und spröde Wiedergabe bemängelte. (Anm.2) Und tatsächlich sind auch die TESTE SCELTE DI PERSONAGGI ILLUSTRI […] in künstlerischer Hinsicht keineswegs voll überzeugend. Im Gegenteil – viele ihrer Blätter wirken relativ grob und unbeholfen ausgeführt. Selbst wenn man die Radiertechnik und die damit verbundene Entscheidung für eine lockere und lebendige Wiedergabe einbezieht, bleiben die Ergebnisse in vielen Fällen wenig befriedigend. Dennoch ist Fidanzas Beitrag nicht nur aufgrund der frühen separaten Publikation von Köpfen und wegen des Umfangs der Serien bemerkenswert. Zudem gelingen ihm in einzelnen Fällen durchaus packende Reproduktionen, so etwa im Falle Kopf des Heliodor, eines Jünglings aus der Transfiguration oder wie bei dem hier vorgestellten aufmerksam schauenden jungen Mann vom linken unteren Rand der Disputa. Die Wiedergabe überzeugt mit ihrer Lebendigkeit und der starken Präsenz der Figur. Und sie überrascht mit einem Motiv, dass selbst Raffael-Kenner womöglich nicht sogleich zuordnen können. Dies scheint bereits um 1760 herum so gewesen zu sein, weshalb Fidanza in seiner Bildunterschrift die Position des Kopfes genau vermerkte. Seine Deutung, dass der junge Mann dem Architekten Bramante über die Schulter schaut, ist aufgrund der physiognomischen Übereinstimmung relativ sicher. (Anm. 3) Raffael hatte hier wohl seinem Mentor und Landsmann – beide stammen aus den Marken – ein bildnerisches Denkmal gesetzt. Unabhängig davon besteht ein Verdienst von Fidanzas Folge darin, die Wahrnehmung für manche Erfindung Raffaels zu schärfen, die sonst angesichts der ‚Konkurrenz‘ weitaus berühmterer Figuren – wie etwa Plato oder Aristoteles – leicht übersehen werden könnte.
David Klemm

1 Die Angaben in den Handbüchern sind z. T. widersprüchlich; vgl. Passavant 1839b, S. 108; Nagler 14 (1845), S. 545; Thieme-Becker 11 (1915), S. 534, dort mit dem Erscheinungsdatum 1756–1766 und der Anzahl von 216 Blättern. Der erste Band erschien erstmals 1757, der zweite 1759. Es folgten dann Band drei im Jahr 1762, im Jahr darauf der vierte und fünfte und letztlich 1766 der Abschlussband.
2 Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 48.
3 Diese Deutung findet sich auch auf einer Erklärung der Personen auf der Disputa-Darstellung von Raphael Morghen; vgl. Höper 2001, S. 373, Nr. F 1.4.

Details zu diesem Werk

Radierung 376mm x 268mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett. Erworben 2021 von C. G. Boerner, Düsseldorf, mit Mitteln des Fördervereins "Die Meisterzeichnung. Freunde des Hamburger Kupferstichkabinetts e. V." Inv. Nr.: 2021-9 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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