Kurt Schwitters
MZ 606 Leiden, 1923
1923 war für Kurt Schwitters ein bedeutendes Jahr: Er veröffentlichte die erste von siebzehn Ausgaben der Zeitschrift "Merz" und begann in seiner Wohnung in Hannover die Arbeit am ersten "Merzbau", einer bildnerisch-architektonischen, vielgliedrigen Raumgestaltung. Entscheidenden Einfluss auf Schwitters’ künstlerische Entwicklung hatte eine Hollandreise im Frühjahr dieses Jahres: Hier traf er auf die niederländischen Künstler*innen Theo und Nelly van Doesburg, Mitglieder der Gruppe De Stijl, deren funktionale Ästhetik ihn interessierte.
"Mz 606 Leiden" ist im Kontext dieser Reise entstanden. Auffällig ist die Verwendung von an De Stijl-erinnernden rechteckigen Formen und klaren Linien. Die Collage zählt zu den "Merzzeichnungen", in denen der Künstler verschiedene Materialien auf Papier oder Karton montierte und teils auch gezeichnete oder gemalte Bildteile integrierte. Seit 1918 entstanden mehr als 1.000 "Merzzeichnungen", die damit zur mit Abstand umfangreichsten und am kontinuierlichsten entstandenen Werkgruppe in Schwitters’ Werk werden. Die während der Reise in Holland gefundenen Fahrscheine, Eintrittskarten und Zigarettenpapiere sind typische Kompositionselemente für Schwitters, der aus seiner Kunst des Collagierens eine eigene, höchst individuelle Kunstrichtung schuf: Merz (ein Wortfragment aus »Commerzbank«). Es war dessen ausdrückliches Ziel, das Prinzip der Collage auf alle Lebensbereiche zu übertragen: »Merz ist eine Weltanschauung. Sein Wesen ist absolute Unbefangenheit, vollständige Unvoreingenommenheit. […] Merz bedeutet Beziehungen schaffen, am liebsten zwischen allen Dingen der Welt.«1 Erklärtes Manifest seiner künstlerischen Philosophie war der anfangs erwähnte "Merzbau", an dessen sich ständig verändernder Architektur Schwitters intensiv arbeitete und den er auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Diktatur 1936 zurücklassen musste. Schwitters gab die Hoffnung auf eine erneuernde Kraft der Kunst trotzdem nicht auf. Das Zusammenfügen von Einzelteilen – Bruchstücken einer zusammenstürzenden Welt – nutzte der Künstler um eine neue, verbindende Ordnung zu erbauen. Er arbeitete auf der Flucht erst in Norwegen und später in London an zwei weiteren "Merzbau"-Varianten, die beide nicht erhalten sind.
Jan Steinke
1 Kurt Schwitters, Das literarische Werk, Band 5, Manifeste und kritische Prosa, hrsg. von Friedhelm Lach, Köln 1981, S. 187.