Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Radierer

Bildnis Raffaels (Detail aus dem Fresko der "Schule von Athen"), vor 1800

In seinen Jahren als Hofmaler in Neapel widmete Tischbein sich einer Reihe von physiognomischen Studien in Form von Charakterköpfen. Schon in Zürich war er mit den wissenschaftlich-physiognomischen Studien des Schweizer Philosophen Johann Caspar Lavater in engen Kontakt gekommen. Er fertigte für Lavater Zeichnungen an, dessen Lehre beeinflusste ihn zeitlebens stark. So fanden physiognomische Studien in viele seiner gemalten, gezeichneten und radierten Bildnisse von Menschen Eingang. Vor allem aber in seinen oft vermenschlichten Tierdarstellungen sind diese zu spüren. So veröffentlichte er 1796 in Neapel die Radierungsfolge Tête de différents animaux […], zu der er parallel auch verschiedene physiognomische Kopfstudien von Menschen radierte. (Anm. 1) Diese überlieferten Charakterköpfe zeigen, neben dem erfolglosen neapolitanischen Musiker Niccolò Sale (Anm. 2) – Tischbeins Vorbild für seine Eselsgeschichte, oder der Schwachmatikus und seine vier Brüder der Sanguinikus, Cholerikus, Melancholikus und Phlegmatikus […] – unter anderem auch zwei berühmte Künstler des 16. und 17. Jahrhunderts. Einerseits den aus Neapel stammenden Landschafts- und Figurenmaler Salvator Rosa (Anm. 3) , dessen Bildnis Tischbein frei und seitenverkehrt nach dem bekannten Kupferstich von Giovanni Battista Bonacina von 1662 kopierte (Anm. 4), und eben jenes hier vorliegende Raffael-Bildnis. Zweifellos eine persönliche Hommage an den göttlichen Urbinaten. Vorbild für dieses raffiniert einfache Profilbildnis Raffaels ist dessen Selbstbildnis in dem Fresko der Schule von Athen in der Stanza della Segnatura im Vatikan (vgl. Inv-Nr. 719 und 20490). Beeindruckend ist die fehlende seitliche Begrenzung am rechten Rand, die sich förmlich fließend und schwebend im Bildraum auflöst und den als göttlich empfundenen Dargestellten dem irdischen Leben zu entrücken scheint.
Andreas Stolzenburg

1 Mildenberger 2011, S. 124–125. Für freundliche Hinweise sei Hermann Mildenberger, Weimar, gedankt.
2 Bildnis Niccolò Sale; vor 1800, Radierung, 191 x 148 mm (Platte), 220 x 180 mm (Blatt), Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 15058c1; vgl. Ausst.-Kat. London 2011, S. 138–139, Nr. 35, Abb. (Beitrag Hermann Mildenberger).
3 Inv.-Nr. 15058e2; vgl. Ausst.-Kat. London 2011, S. 136–137, Nr. 34 (Exemplar aus der Sammlung Charles Booth-Clibborn, London; Beitrag Hermann Mildenberger).
4 Ausst.-Kat. Leipzig/Haarlem 1999, Abb. Frontispiz. Der Porträtstich von Pier Leone Ghezzi weist eine andere Physiognomie auf; vgl. Fischer Pace/Stolzenburg 1999, S. 52, Abb. 24.

Details zu diesem Werk

Radierung 302mm x 199mm (Platte) 326mm x 232mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 15058e4 Sammlung: KK Druckgraphik, Deutschland, 15.-18. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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