Dr. Selle & Co. AG, Berlin, Drucker
nach George Grosz, Zeichner
Malik Verlag, Berlin, Verleger
Friedrichstraße, 1923 (1918 gezeichnet)
In: "GEORGE GROSZ ECCE HOMO", Berlin 1923, Blatt 1
In den finanziell angespannten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg malte der Künstler und Karikaturist George Grosz kaum in Öl, sondern verlegte sich aufs Zeichnen und Aquarellieren. Im progressiven Malik-Verlag veröffentlichte er mehrere Graphik-Mappen mit Reproduktionen dieser Arbeiten, darunter auch eines seiner bekanntesten Werke: "Ecce homo".
Die Mappe umfasst 100 zwischen 1915 und 1922 entstandene Blätter, ihr zentrales Thema ist der Mensch. In hoher gestalterischer Vielfalt sind Graphiken und reproduzierte, farbige Aquarelle vereint, die sowohl groß- als auch kleinbürgerliche sowie Halbwelt-Szenarien zeigen. Die Dargestellten, wiewohl als Typen gezeichnet, lassen sich teilweise als real existierende Persönlichkeiten identifizieren und sind stets in ihren sozialen Zugehörigkeiten erkennbar. In Genreszenen zeigte Grosz unter anderem Wirtshausgäste, Bordellbesucher, Familien im Grünen oder im eigenen Heim. In Darstellungen wie "Lustmord in der Ackerstraße" werden die Konsequenzen eines von sich selbst und den eigenen Empfindungen entfremdeten Lebens in frivolen, gewalttätigen und sexuellen Bildern beschrieben. Grosz präsentierte die Scheinheiligkeit des Bürgertums mit spitzer, satirischer Feder, und so kommentierte der Schriftsteller Max Herrmann-Neiße: »Genau überliefern diese Zeichnungen das wirkliche Gesicht des Deutschland unserer Zeit.«1
Noch im Jahr der Publikation wurde in Berlin gegen Grosz sowie Julian Gumperz und Wieland Herzfelde, die beiden Inhaber des Malik-Verlages, Anklage erhoben. Ihnen wurden der Verkauf und die Verbreitung »unzüchtiger Abbildungen und Darstellungen« vorgeworfen. Sie wurden zu einer Geldstrafe von je 500 Goldmark verurteilt, 17 Graphiken und fünf Aquarell-Reproduktionen sollten aus der Mappe entfernt werden; die entsprechenden Druckplatten waren unbrauchbar zu machen. Die nationale und internationale Presse schlug sich jedoch auf Grosz‘ Seite und missbilligte dieses Urteil.
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde Grosz als »Kulturbolschewist« verunglimpft. Auch Teile von "Ecce homo" wurden auf mindestens drei Stationen der Ausstellung »Entartete Kunst« präsentiert, nachweislich in Berlin, Düsseldorf und Hamburg.
Juliane Au
1 Max Herrmann-Neiße: »Ein Bürgerspiegel«, in: Die Aktion. Zeitschrift für Politik, Literatur, Kunst, Vol. 13, 29.4.1923, Sp. 212–215, hier Sp. 215.
Das vorliegende Blatt entstammt dem Buch "ECCE HOMO", das 84 Reproduktionen nach Zeichnungen und 16 Reproduktionen nach Aquarellen von George Grosz enthält. Bei der in der Sammlung des Kupferstichkabinetts der Hamburger Kunsthalle befindlichen Ausgabe von "ECCE HOMO" handelt es sich um die gebundene Ausgabe C, die nach Aussage des damaligen Leiters des Malik Verlages, Wieland Herzfelde, in einer Auflage von etwa 6000 bis 8000 Exemplaren erschien. Den Offsetdrucken liegen Zeichnungen oder Aquarelle von Grosz zugrunde, deren Maße zum Teil durch das Reproduktionsverfahren verändert wurden. Die Datierung der einzelnen Blätter im Inhaltsverzeichnis des Buches ist teilweise fehlerhaft, da diese nicht vom Künstler selbst, der sich zu jener Zeit in der Sowjetunion aufhielt, sondern von Herzfelde und Groszs Ehefrau Eva vorgenommen wurde. Die entsprechend korrigierte Datierung nach Dückers ist hier übernommen worden.
Zur komplizierten Frage der Datierung der Folge vgl. Dückers S. 207ff. Das Werk erschien wahrscheinlich in kleinerer Auflage schon 1922; das auf dem Buchtitel angegebene Erscheinungsdatum beruht wohl auch auf der Annahme des Verlegers, dass das Buch aufgrund der schwierigen Wirtschaftslage erst 1923 auf den Markt gelangen könne.
Nach Erscheinen des Sammelwerks wurde gegen Grosz und die Herausgeber ein Prozess wegen "Verbreitung unzüchtiger Schriften" geführt, was zur Folge hatte, dass mehrere Blätter entfernt werden mussten und die Mappen anstatt 84 nur noch 66 Schwarz-Weiß und statt 16 nur noch 11 Farb-Reproduktionen enthielten.
Vgl. grundlegend Dückers, Alexander: George Grosz. Das druckgraphische Werk, Frankfurt am Main 1979, S. 207-210.
Alina Bakowski