Daniel Nikolaus Chodowiecki
Lesestunde, 1760 - 1765
Zwanglos um einen runden Tisch vor dem Kachelofen gruppiert sitzen ein vorlesender Mann und zwei junge Frauen, die ihm zuhören, während sich ein Kind am Tisch zeichnend beschäftigt. Neben dem Kind, den Arm auf die Stuhllehne gestützt, steht eine dritte Zuhörerin. Die Beine des jungen Mannes und des im Profil sitzenden Mädchens rechts scheinen sich, zum Betrachter hin durch ihren Rock und für die anderen Zuhörer durch den Tisch verdeckt, zu berühren.
Die „literarisierte Geselligkeit“1 der bürgerlichen Salons der Aufklärung ist von Chodowiecki in einer Reihe von Gemälden thematisiert worden. Obwohl es sich um idealisierte Szenen des privaten literarischen Beisammenseins handelt, zog Chodowiecki häufig Studien seines familiären und privaten Umfeldes als Vorlagen heran. Für die Figur des Vorlesers stand möglicherweise der spätere Philosoph und Naturwissenschaftler Johann Jacob Ebert (1737-1805) Pate.2
Geismeier datiert Inv. 738 in die Jahre zwischen 1758 und 1762, Börsch-Supan nimmt eine Entstehung um 1765 an.3 Im Lichte des um 1770 einsetzenden moralisch-didaktischen Radierwerkes Chodowieckis könnte der Kontakt der Zuhörerin rechts mit dem Vorleser nicht nur ein anekdotisches Detail sein. Möglicherweise ist bereits das moralische Fehlverhalten einer nicht nur auf ihrem kippelnden Stuhl ‚haltlosen’ jungen Frau angezeigt.4
G. W.
1 Finsen 2001, S. 139.
2 Ähnliche Züge finden sich in dem als Ebert identifizierten, im Bett liegenden Vorleser in einer Zeichnung Chodowieckis (Bleistift und Tusche, weiß gehöht, 10,7 x 11,7 cm, bez. Beym Profeßor Nicolai / Dr. Eberti, Staatliche Museen zu Berlin).
3 Geismeier 1993, S. 40; Börsch-Supan 1997, S. 71.
4 Zur ‚richtigen’ und ‚falschen’ Körpersprache von Frauen in den Illustrationsfolgen Chodowieckis siehe I. Barta, Der disziplinierte Körper, in: dies [u.a.] (Hrsg.), Frauen. Bilder. Männer. Mythen, Berlin 1987, S. 84-106.
AUSST.: Neue Erwerbungen der Hamburger Kunsthalle 1945-1955, Hamburger Kunsthalle 1955, S. 10, Nr. 4; Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Frankfurt a. M. 1999, S. 220f., Nr. 129, Farbabb. (Text v. Irmgard Müsch).
LIT.: Katalog 1956, S. 39; Alfred Hentzen, Erwerbungen 1951-1957, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 3, 1958, S. 150, Abb. 7; Ekhart Berckenhagen, Die Malerei in Berlin vom 13. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert, Berlin 1964, o. S., Abb. 425; Katalog 1966, S. 41; Meisterwerke 1969, o. S., Abb. 152; Willi Geismeier, Daniel Chodowiecki, Leipzig 1993, Farbabb. S. 40; Helmut Börsch-Supan, Daniel Chodowiecki als Maler. Zu Fragen der Datierung, in: Ernst Hinrichs, Klaus Zernack (Hrsg.), Daniel Chodowiecki (1726-1801). Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann, Tübingen 1997 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 22), S. 71; Hans Carl Finsen, Die Rhetorik der Nation. Redestrategien im nationalen Diskurs, Tübingen 2001, S. 139, Abb. 11.