Caspar David Friedrich

Wanderer über dem Nebelmeer, um 1817

"Der Wanderer über dem Nebelmeer" gilt heute als Inbegriff der Romantik. Kein anderes Werk Caspar David Friedrichs wird so häufig reproduziert oder aufgegriffen und in immer neuen Variationen als Ausgangspunkt für Bilderfindungen gewählt. Dabei ist das Gemälde für das Œuvre Friedrichs eher ungewöhnlich: Zum einen handelt es sich um eines der wenigen Hochformate von seiner Hand, zum anderen hat Friedrich selten ein einzelnes Individuum so groß und unübersehbar in das Zentrum einer Bildkomposition gestellt. Während die Rezeptionsgeschichte davon zeugt, wie sehr sich viele Betrachter bis heute in die Figur des Wanderers hineinzuversetzen versuchen, dürfte es Friedrich nicht vorrangig um eine solche Identifikation gegangen sein. Er zeigt uns eine Rückenfigur, deren Standort für uns nicht ohne weiteres erreichbar ist. Zudem bleibt uns vorenthalten, worauf der Wanderer blickt. Statt ungehindert die majestätische Berglandschaft genießen zu können, schauen wir auf einen Betrachter. Es ist daher vor allem eine Reflexion des Sehens, zu der uns Friedrichs Wanderer einlädt.

Johannes Grave
Caspar David Friedrichs ikonisches Gemälde Wanderer über dem Nebelmeer besetzt seit Jahrzehnten einen festen Platz in unserem kollektiven Bildgedächtnis, hat aber mit seiner medialen Präsenz im heutigen Zeitalter der sozialen Netzwerke eine neue Dimension erlangt. Längst wurde der Wanderer auch von der zeitgenössischen Kunst entdeckt, um in Form von Adaptionen das ihm zugeschriebene Identifikationspotenzial kritisch zu hinterfragen. Die besondere Wirkung des Bildes verdankt sich der suggestiven Kraft seiner Komposition, woran die prominenteste Rückenfigur in Friedrichs Œuvre maßgeblichen Anteil hat. (1) Doch obgleich sich in letzter Zeit die Versuche häufen, das Rätsel um die Identität des anonymen Wanderers zu lösen: Es existieren keinerlei verlässliche Indizien, anhand derer sich die von Friedrich ins Bild gesetzte Person identifizieren ließe.
Wie in einem Brennspiegel verdichtet sich in dem Gemälde ein ganzes Bündel grundlegender romantischer Topoi: Das Gipfelerlebnis, das Einssein mit der Natur und der damit verbundene Faktor der Einsamkeit, schließlich die subjektiven Bedingtheiten des Sehens, die dem Motiv auf eine besondere Weise eingeschrieben sind. All dies verkörpert die männliche Rückenfigur als das inhaltliche und kompositorische Zentrum des Werks. (2) Die Mittelsenkrechte wird durch den stehenden Mann betont, und die von beiden Seiten zur Mitte hin abfallenden Bergflanken sind ebenfalls auf ihn ausgerichtet. Mit derartigen von hinten gesehenen Personen fand Friedrich für das Thema des subjektiven Naturerlebens eine besonders aussagekräftige Form.
Der Mann, der durch seine Kleidung als Städter ausgewiesen ist und sich in die Natur begeben hat, um sie ästhetisch zu erfahren, hat den Gipfel erreicht. Er hält inne, um die Aussicht zu genießen, die sich ihm darbietet. Vor seinen Augen entfaltet sich eine von markanten Bergen rhythmisierte und durch Nebelschwaden akzentuierte Mittelgebirgslandschaft. Wir aber blicken weniger in diese als einer dort befindlichen Person über die Schulter. Dadurch erhob Friedrich das Sehen zum eigentlichen Thema des Bildes. Die wenigen erhaltenen Vorzeichnungen betreffen lediglich Teile des Gemäldes. So entlehnte der Künstler den Felssockel, auf dem die männliche Figur so unverrückbar wie statuarisch steht, einer Zeichnung, die er am 3. Juni 1813 in der Sächsischen Schweiz während des Aufstiegs zur Kaiserkrone geschaffen hatte. (3) Ein senkrechter Strich am linken Blattrand, den Friedrich mit einer Notiz versah, (4) unterstreicht die Bedeutung seiner subjektiven Blickerfahrung in der Natur für die räumliche Verortung des Gesehenen im Gemälde. Darüber hinaus nutzte er für den Kegelberg im linken Hintergrund, auf den rechts der markante Zirkelstein antwortet, eine im Mai 1808 angefertigte Studie des Rosenbergs in der Böhmischen Schweiz. (5) Und für die Felsformation im linken Mittelgrund orientierte sich Friedrich an seiner 1808 in der Sächsischen Schweiz entstandenen Zeichnung des östlich von Rathen befindlichen Gamrig, dessen Erscheinungsbild er im Gemälde geringfügig modifizierte. (6)
Angesichts der Prominenz des Bildes wäre man fast versucht, von einer bescheidenen Ausbeute zu sprechen. Aber gerade dieser Befund eint den Wanderer über dem Nebelmeer mit anderen Bildern Friedrichs, für die sich, wenn überhaupt, Studien in einer eher überschaubaren Zahl erhalten haben.

Markus Bertsch (in: Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit, hrsg. von Markus Bertsch und Johannes Grave, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Berlin 2023, S. 196f.)

(1) Zur Bedeutung der Rückenfiguren im Werk von Friedrich vgl. u. a. Wolfradt 1924, S. 42–62; Ausst.-Kat. Hamburg 1974, S. 40–43; Prange 1989, S. 286–291; Hofmann 1995, S. 401–428; Rzucidlo 1998; Böhme 2006; Scholl 2007, S. 166–169 u. 317–323; Sugiyama 2007; Grave 2022a, S. 203–223. Vgl. zu diesem Thema auch den Essay des Autors im vorliegenden Katalog.
(2) Grave 2022a, S. 203–205.
(3) Grummt 2011, Bd. 2, S. 647 f., Nr. 680. Vgl. auch Börsch-Supan/Jähnig 1973, S. 349, unter Nr. 250; Hoch 1996, S. 58; Richter 2021/22, S. 155.
(4) »so hoch über die höchste Spitze des Steines ist der Horizont«.
(5) Grummt 2011, Bd. 2, S. 532–534, Nr. 564.
(6) Ebd., S. 542 f., Nr. 574.

Details about this work

Öl auf Leinwand 94.8cm x 74.8cm (Bild) 119.5cm x 99.5cm (Rahmen) Hamburger Kunsthalle, Dauerleihgabe der Stiftung Hamburger Kunstsammlungen, erworben 1970 Inv. Nr.: HK-5161 Collection: 19. Jahrhundert Bildnachweis: SHK / Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford


Zur Zeit nicht ausgestellt |Not on Display:

Der »Wanderer über dem Nebelmeer« ist vom 12. August 2024 bis Sommer 2025 auf Wanderschaft. Vom 24.08.24 – 5.01.2025 ist er in der Ausstellung »Caspar David Friedrich. Wo alles begann« im Albertinum in Dresden und im Anschluss vom 8.02.2025 – 11.05.2025 im Metropolitan Museum N.Y. (USA) »Caspar David Friedrich: The Soul of Nature« zu sehen.

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