Philipp Otto Runge

Fall des Vaterlandes. Vorzeichnung zur geplanten Vorderseite des Umschlags, 1809

1809 bereitete der mit Runge befreundete Verleger Friedrich Perthes die Herausgabe der Zeitschrift „Vaterländisches Museum“ vor, mit der er für die „Erhaltung Deutscher Bildung und für [die] Bewahrung Deutsch=eigenthümlicher Art und Wissenschaft und Kunst“ eintrat (Anm. 1). Für den Umschlag der Zeitschrift, die angesichts napoleonischer Besetzung und Untergangs des Deutschen Reichs zu einem Organ nationaler Erneuerung werden sollte, lieferte Runge zwei Entwürfe für die Vorder- und Rückseite, die er „Fall des Vaterlandes“ nannte. Der Entwurf für die Vorderseite zeigt „leicht mit Rasenstücken überdeckt, einen Erschlagenen nackend hingestreckt, unter dem Rücken ein Stein. Ueber den Rasen hin treibt die Witwe den Pflug, den der Amor, welcher sie verbunden hatte, zieht. Ein kleines Kind hockt ihr auf den Schultern, sich an ihrem Kopfe festhaltend. An jeder Seite des Bildes steht ein Speer, von einem Helm bedeckt; schräg von den Speeren aus gehen zwey Schwerdter nach der oberen Mitte hin, wo die Griffe derselben zusammenkommen, von welchen der Doppelkopf des Janus herabhängt. Ganz unten ist ein Fries mit Passionsblumen und deren Laub, welches denn auch alle Gegenstände im Bilde, bloß mit Ausnahme der lebenden Hauptfiguren, umwindet“. (Anm. 2)
Daniels Beschreibung macht zusammen mit dem Titel des Blattes sinnfällig, weshalb Runges Entwurf als politische Stellungsnahme verstanden werden konnte. In dem Leichnam sah man einen erschlagenen Freiheitskämpfer, über den die Witwe Erdschollen pflügt – aus den Opfern des Krieges entsteht neues Leben in einem Sinne, den Joseph Görres gegenüber Perthes ausgedrückt hatte: „Die Zeit ist mit dem Pfluge über Deutschland hingefahren und hat tiefe Furchen eingeackert, die bereit sind, jeden guten Samen aufzunehmen.“ (Anm. 3) Runge hat die politischen Ereignisse aufmerksam verfolgt und wiederholt sein Unbehagen über den Zerfall Deutschlands und der Bedrohung durch französische Truppen geäußert (Anm. 4). Dass diese Gefahr real war, zeigt die Besetzung Hamburgs durch die Franzosen im November 1806. Die napoleonische Besetzung war für Runge eine Phase des Stillstands, doch hatte ihn nie die Hoffnung verlassen, die deutsche Kraft würde, einem Wechsel der Jahreszeiten vergleichbar, wieder erstehen. Dass sich Runge des existenziellen Wendepunkts in der deutschen Geschichte bewusst war, mag der Januskopf ebenso bezeugen, wie die von Helmen bekrönten Turnierlanzen, die die Größe des Deutschen Reichs im Mittelalter beschwören, und die Passionsblumen, die hier die Auferstehung Deutschlands symbolisieren dürften.
Dass derartige Gedanken in Hamburg nicht fremd waren, belegt der damals ebenfalls in Hamburg ansässige Tischbein. Mit Runge immer wieder in Kontakt, waren sie sich in der Ablehnung der französischen Fremdherrschaft einig und erhofften sich die Auferstehung der deutschen Nation – Tischbein allerdings erhoffte sich eher die Rückkehr zum „ancien regime“, während Runge bürgerlich-liberale Vorstellungen vertrat. Tischbeins wohl erst 1814 entstandenes Aquarell „Das Blütenwunder“ (Anm. 5) zeigt eine weite, öde Landschaft mit einer Ruine, in der mittig eine Frau steht, die über einen abschlagenen Ast eines Obstbaumes sinniert, der in voller Blüte steht. Der Darstellung liegt ein Ereignis aus der Besatzungszeit zugrunde, als der französische Marschall Louis Nicolas Davout im Mai 1813 Hamburg erneut besetzt hatte, und im weiten Umkreis der befestigten Stadt sämtliche Häuser zerstören und Bäume fällen ließ, um ein freies Schußfeld zu haben. Auf dieses Geschehen spielt Tischbeins Aquarell an, wie er auf der Rückseite erläutert hat: „Als die Franzosen die umliegenden Gärten von Hamburg zerstörten, die schönen Obstbäume derselben im Winter umhauten und so liegen ließen, schlugen einige im Frühjahr doch laub und trieben Früchte. […] So kräftig strebt die Natur das Schöne wieder hervorzubringen. – Sollten die deutschen Geistes-Treibhäuser, und die schönen Geister die unter die Füße getreten wurden auch wohl wie diese mit den Zeiten wieder aufblühen? Es geht ihnen wie jenen, die innere Kraft treibt öfters noch Blüthen, hin und wieder auch wohl noch eine Frucht.“ (Anm. 6) Der im Winter 1813 abgeschlagene Baum, der im Frühjahr 1814 trotzdem Blüten treibt, steht sinnbildlich für den Fall des Vaterlandes und verkörpert die Hoffnung, dass es wieder aufersteht (Anm. 7).
Tischbeins Blatt verarbeitet ähnliche Ansichten, sicher plakativer, vor allem weniger radikal als Runge. Dessen Blatt ist auch nicht nur patriotische Botschaft. Gleichzeitig spiegelt sich in ihm Runges Vorstellung eines göttlich-kosmischen Kreislaufes der Natur als ein Werden und Vergehen, in dem der Niedergang des alten Lebens nötig ist, damit ein neues entstehen kann (Anm. 8). Runge ließ den untergepflügten Leichnam zur Metapher eines steten Werdens und Vergehens von Natur und Zivilisation werden (Anm. 9). Schuster hat in diesem Zusammenhang zudem auf alchemistische Traditionen als Vermittler neoplatonischen Denkens verwiesen, so scheint Runges „Bildvorwurf der ‚Landwirtschaft über Toten‘ unmittelbar auf alchemistische Bildquellen wie den alchemistischen Sämann zurückzugehen.“ (Anm. 10) Dass Neues nur im Vergehen des Alten entstehen könne, formulierte Runge in christlicher Analogie ähnlich gegenüber Daniel: „[…] das Waizenkorn kann, wie Jesus Christus sagt, nicht wieder wachsen, bis daß es ersterbe.“ (Anm. 11)
Diese Lesart trat aber angesichts der französischen Bedrohung in den Hintergrund; nach der Besetzung Hamburgs war eine gesellschaftskritische Deutung naheliegend; Runges Entwurf wurde deshalb auch nicht als Umschlag verwendet, da er „als Erfindung gar zu schneidend deutlich [war], um nicht Anstand zu finden.“ (Anm. 12) Um nicht mit der Zensur in Konflikt zu kommen, und die Zeitschrift 1810 überhaupt erscheinen lassen zu können, verzichtete Perthes auf die antifranzösische Provokation und ließ Runges Umschlag durch eine andere Version ersetzen (vgl. Inv. Nr. 34278).
Berefelt hat für die Gestalt des nackten Erschlagenen auf die Anregung durch Füsslis Kupferstich „Der tote Abel“ verwiesen (Anm. 13), der als Illustration zunächst 1783 in der französischen, danach 1792 in der englischen Ausgabe der „Physiognomischen Fragmente“ Lavaters erschienen war (Anm. 14), doch hat Hofmann zudem auf Leon Davents Kupferstich „Nymphe und Satyr“ verwiesen (Anm. 15), auf dem die Nymphe den Satyr ebenfalls entmannt. Es ist zwar nicht auszuschließen, dass Runge den Stich kannte, doch dass Runges Bildgedanke deutlicher auf Davents Stich Bezug nimmt als auf Füsslis „Tod Abels“, ist nicht nachvollziehbar. Während die Entmannungsszene bei Davent im Mittelpunkts des Geschehens steht, die Nymphe den Satyr aktiv entmannt, ist dieser Vorgang auf Runges Darstellung nicht sichtbar, geschieht als Folge des Pflügens eher passiv in der Phantasie des Betrachters. Der Vergleich mit dem Entwurf zu dem Blatt (Inv. Nr. 34277), auf dem der Erschlagene oben erscheint, belegt deutlicher die Anregung durch Füssli.
Für das Motiv des Kindes auf den Schultern der Frau hat Schuster auf die Anregung durch Friedrich Hartmanns „Allegorie des Friedens“ verwiesen (Anm. 16), wo ebenfalls ein Kind auf den Schulern der Hore Irene sitzt. Das Motiv der Mutter-Kind-Darstellung ist generell ähnlich, doch hat Klemm zu Recht auf Vorbilder der italienischen Kunst des 16. Jahrhunderts, speziell auf Giovanni Battista Francos Radierung nach einem antiken Relief verwiesen (Anm. 17). Tatsächlich ist eine Anregung durch italienische Vorbilder wahrscheinlich; so zeigt das Motiv des auf den Schultern sitzenden Kindes ähnlich auch eine Zeichnung Francesco Vannis (Anm. 18), die Runge durch eine Lithographie Ferdinand Pilotys bekannt gewesen sein könnte (Anm. 19).
Daniel hat betont, dass die beide Entwürfe für die Umschläge „eigens darauf eingerichtet [seien], im Holzschnitt ausgeführt zu werden.“ (Anm. 20) Insbesondere in der insgesamt etwas flächigen Darstellung, in der die Licht- und Schattenpartien prägnant zueinander gesetzt sind, und in den kurzen, immer wieder ansetzenden Strichen der Feder scheint sich Runge dem Medium des Holzschnittes angepasst zu haben.

Peter Prange


1 Vgl. HS I, S. 356.
2 HS I, S. 359.
3 Zitiert nach Traeger 1975, S. 76.
4 Vgl. etwa den Brief vom 15. Dezember 1805 an Bassenge, vgl. HS II, S. 294.
5 Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Das Blütenwunder, Bleistift, Feder in Schwarz und Braun, Aquarell, 219 x 350 mm, Privatbesitz, vgl. Hinrich Sieveking: Von Füssli bis Menzel. Aquarelle und Zeichnungen der Goethezeit aus einer Münchner Privatsammlung, München 1997, S. 68, Nr. 16, Abb.
6 Zitiert nach Sieveking 1997, S. 68.
7 Einem ähnlichen Gedankenkreis entstammt auch Tischbeins Aquarell Ein beschädigter Birnbaum, dessen Stamm mit Seilen zusammengebunden ist, trägt wieder Früchte, Feder in Braun, Aquarell, 288 x 414 mm, Privatbesitz, vgl. Wahlverwandtschaften. Eine englische Privatsammlung zur Kunst der Goethezeit, London 2013, S. 82, Nr. 9, Abb.
8 Vgl. Runge 1977, S. 110.
9 Jensen 1977, S. 177.
10 Schuster 1977, S. 286, Abb. 4.
11 Brief vom 20. August 1803 an Daniel, vgl. HS II, S. 239.
12 HS I, S. 360.
13 Berefelt 1961, S. 167.
14 Johann Caspar Lavater: Essays on Physiognomy designed to promote the Knowledge and the Love of Mankind, London 1792, Bd. II, S. 286, vgl. Gert Schiff: Johann Heinrich Füssli 1741-1825, Zürich-München 1973, S. 529, Nr. 953, Abb. Zur französischen Ausgabe vgl. Schiff 1973, S. 498, Nr. 770.
15 Europa 1789, S. 408.
16 Vgl. Runge 1977, S. 109.
17 Klemm 2012, S. 271, Abb. 32.
18 Franceesco Vanni, Frau mit Kind auf der Schulter, Rötel, zum Teil mit dem Pinsel angelöst, 230 x 138 mm, Staatliche Graphische Sammlung München, Inv. Nr. 2345 Z, vgl. Kurt Zeitler: Zeichner in Rom 1550-1700, Berlin-München 2012, S. 124, Nr. 48, Abb.
19 Vgl. Nicole Kromminga: Ferdinand Piloty d. Ä. Ein Beitrag zur Frühzeit der Lithographie in München, in: Oberbayerisches Archiv 113, 1989, S. 82, Nr. 106.
20 Vgl. HS I, S. 359.

Details about this work

Feder in Schwarz über Bleistift 167mm x 110mm (Bild) 193mm x 134mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 34316 Collection: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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