Philipp Otto Runge

Natur (Studie), 1810

Die von Daniel „Natur und Geist“ alternativ „Natur und Kunst“ oder „Sommer und Winter“ benannte Zeichnung diente als Vorlage für den Kupferstich von Christian Friedrich Sprinck, den er für den Umschlag des von Wilhelm Gottlieb Becker herausgegebenen „Taschenbuch zum geselligen Vergnügen „ 1811 gestochen hatte (Anm. 1). Die „sinnreiche Erfindung der Vorstellungen“ Runges hat Becker erläutert: „Die Vorderseite ist ein Bild der vier Jahreszeiten. Ein Mädchen auf einem Blumenthrone sitzend stellt uns gleichsam die Blüthe des Lebens, auf welches alles Uebrige bezogen ist, personificirt dar. Auf der Rückseite ist jenes poetische Naturbild in ein poetisch=sittliches verwandelt, und statt der Jahreszeiten sehen wir hier die Poesie, Oekonomie, Theologie und Philosophie allegorisirt, die auf der Vorderseite nur leise angedeutet waren. Dort hat die Natur alles durch Blumen verbunden; hier sind die Genien von der Kunst mit dem mütterlichen Mantel umschlungen.“ (Anm. 2)
Daniel hat die „tiefsinnige Arbeit“, die letzte Runges, noch ausführlicher beschrieben: „ Der Blumenthron der Jungfrau erhebt sich auf der Vorderseite bis zur Mitte des Bildes; sie hat ‚Blumen in ihren Schoos gepflückt‘, hält daraus ein Rosenknöspchen in der einen Hand und sieht still auf dasselbe nieder. Von den vier Genien sitzen zwey oben in beiden Ecken auf Wolken, und zwey ruhen unten auf ihren Knieen. Oben rechts ein Knabe, der eine Lyra hält, und einen Kranz nach der Jungfrau hinab reicht: Frühling. Unten rechts ein andrer, eine Korn= und Kleegarbe hinter sich haltend, eine Sichel in der andern Hand: Sommer. Unten links ein Mädchen, festgebunden an eine hinter ihr stehende Stange mit Trauben und Weinlaub: Herbst. Oben links ein Knabe, die eine Hand erhebend, die andre ruht auf einen Globus: Winter – Rückseite: Von einem getäfelten Boden führen Stufen zum Sitz der Mutter Weisheit in der Mitte hinauf. Hinter ihr ist wie ein Zeltgewand ausgespannt, über welchem und hinter ihrem Haupt die Strahlen der Sonne. Ihr weiter Hauptschleyer und zugleich Mantel umfaßt vier Kinder: das eine links, zu welchem sie die Hand aufhebend herabsieht, hebt die Händchen auf ihren Schoos, gleichsam sein Gelerntes hersagend; dem andern rechts legt sie eine Hand auf’s Haupt, es faltet die Händchen gegen ein kleines Kreuz, das vor ihm steht; rechts auf ihrer linken Schulter ruht ein ein größerer Knabe, aufmerksam zuhörend; endlich hat links an ihrem rechten Knie ein Kind ein Körbchen vor sich, worauf es die eine Hand legt, mit dem andern Arm aber das Panshaupt (s. weiterhin) umfaßt. Die oben angegebenen vier Symbole befinden sich in den beiden untern Ecken auf zwey antiken Altären, in den beiden oberen auf zwey korinthischen Säulen, als: Oben links eine blumenbekränzte Lyra: Poesie; unten links ein Panshaupt, und als Basrelief an dem Altar Korngaben und Gefäße: Oekonomie; unten rechts ein Todtenkopf, auf Weintrauben ruhend, und als Basrelief der geweihte Kelch mit der Schlange, auf Weinlaub und Trauben stehend: Thoelogie; oben rechts eine Sphäre: Philosophie. Die Füße der Mutter ruhen auf einer herabhangenden Decke, an deren Rande steht: PHILIP. OTTO. RUNGE FECIT. MDCCCX. – Beide Seiten sind mit einem schmalen Rahmen mit Eichenlaub eingefaßt. Auf dem Deckelrücken sieht man oben die strahlende Sonne, unten den Mond im Viertel nebst der dunklen Seite, in der Mitte die Erdkugel; aus Wolken von der Sonne, so wie auch von dem Monde her, sehen Engelsköpfchen nach der Erde hin.“ (Anm. 3)
Ungewöhnlich ist, dass Runge das Blatt mit Signatur und Datum versah; gegenüber Daniels Schilderung fallen einige Unterschiede in der Zeichnung auf, auf die bereits von Langner und Demisch hingewiesen wurde: Das hinter der Personifikation des Geistes aufgespannte „Zeltgewand“ meint die Exedra des Thrones, die „korinthischen“ Säulen tragen eher komposite Kapitelle, und der Putto unten links kann dem Panskopf nicht umfassen, da dieser außerhalb seiner Reichweite steht; vielmehr greift er nach dem Mantel des Geistes und hat nicht, wie Daniel vermerkt, ein Körbchen vor sich, sondern eine Wiege.
Die Zeichnung war von Runges Freund Enoch Richter aus Leipzig im Februar 1810 bestellt worden; Runge hatte sie Ostern abgeliefert (Anm. 4), doch hat der Stecher Sprinck, wie Daniel anmerkt, es bei der Übertragung der Zeichnung „so verkehrt gemacht, daß beym Einbinden die Rückseite zur Vorderseite werden mußte, und umgekehrt.“ (Anm. 5) Dies bedeutet, dass auch Beckers zitierte Beschreibung vor dem Einbinden entstanden sein muss.
Sprinck hielt sich bis auf die Verwechselung der Vorder- und Rückseite genau an die Vorlage, doch bemängelte Daniel gegenüber Goethe, dass es dem Stecher nicht gelungen sei, die Zeichnung adäquat umzusetzen: „Es ist zu bedauern, daß das Bemühen des Kupferstechers nicht eben gelungen ist und die Zartheit der Zeichnung verstellt.“ (Anm. 6) Tatsächlich überführt Sprinck Runges abwechslungsreiches, lebendiges Lineament in eine genaue, dabei aber etwas spröde Stechermanier.
Daniel erwähnt einen „größeren leichten Federentwurf“, der „in einigen Kleinigkeiten“ von der Vorlage für Sprincks Kupferstich abweicht; will man nicht von einem weiteren, dann unbekannten Entwurf ausgehen, dürfte sich Daniels Notiz auf Inv. Nr. 34241 und 34242 beziehen. Während die Darstellung der „Natur“ Inv. Nr. 1938-39 entspricht, hat Runge für die Darstellung des Geistes einige kleinere Änderungen vorgenommen. An die Stelle der Decke, auf die die Weisheit ihre Füße setzt, ist auf Inv. Nr. 34242 eine große Muschel getreten, die Demisch als Pilgermuschel deutet (Anm. 7). Ob dem Ersatz der ionischen Kapitelle durch komposite eine tiefere Bedeutung zukommt, wäre noch zu klären. Zur weiteren Deutung der Zeichnung zwischen humanistischer Tradition und Freimaurerei vgl. die in der Literatur genannten Arbeiten von Schuster, Langner und Demisch.
Die beiden Blätter, die wohl ehemals einen Bogen bildeten (Anm. 8), sind exemplarisch für Runges Arbeitsweise. Unter der Federzeichnung liegt eine Bleistiftzeichnung, die der Bildanlage dient; sie weicht teilweise von der Federzeichnung ab, die Runge in einem zweiten Arbeitsschritt darüber gelegt hat, und mit der Runge die Komposition präzisiert und endgültig festgelegt. Dies geschieht in einem flüssigen, teilweise auch kritzelnden Duktus, der sich in der lockeren Fügung des Lineaments deutlich von der genau durchgezeichneten Stichvorlage unterscheidet.

Peter Prange

1 Vgl. HS I, S. 361.
2 Taschenbuch zum geselligen Vergnügen, Leipzig 1811, S. XII.
3 Vgl. HS I, S. 361-362.
4 Vgl. HS II, S. 506.
5 Vgl. HS I, S. 362. Vgl. dagegen Langner 1979, S. 148, Anm. 4, der davon ausgeht, dass die Platzierung von „Geist“ auf der Vorderseite Runges ursprünglicher Disposition entspricht.
6 Brief Daniels vom 13. Oktober 1811 an Goethe, vgl. Maltzahn 1940, S. 108.
7 Vgl. dazu Demisch 1996, S. 190-191.
8 Die beiden Darstellungen auf den Versoseiten lassen sich zwar nicht zu einer Darstellung zusammenfügen, doch gleichen sie sich stilistisch und motivisch so sehr, dass ihre Zusammengehörigkeit sicher ist.

Details about this work

Feder in Braun über Bleistift 264mm x 196mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 34242 Collection: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Bildarchiv Hamburger Kunsthalle / bpk, CC-BY-NC-SA 4.0

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