Philipp Otto Runge

Der Morgen (Tageszeiten), 1803

Zwischen Weihnachten 1802 und Juli 1803 entstand in Dresden Runges bedeutendstes Werk, der vierteilige graphische Zyklus der „Zeiten“, der mit seinem komplexen Gefüge von Arabesken den Wechsel der Tages-, Jahres- und Weltzeiten allegorisiert. Zunächst als Nebenbeschäftigung an der Arbeit zu seinem Gemälde „Lehrstunde der Nachtigall“ begonnen, weitete sich das Projekt zur zentralen Unternehmung im Werk Runges aus. Er sah die Tageszeiten zunächst als Zimmerdekorationen vor, für die ein eigener Raum vorgesehen war: „Meine vier Bilder, das ganze Große davon und was daraus entstehen kann: kurz, wenn sich das erst entwickelt, es wird eine abstracte malerische phantastisch=musikalische Dichtung mit Chören, eine Composition für alle drey Künste zusammen, wofür die Baukunst ein ganz eignes Gebäude aufführen – sollte.“ (Anm. 1) Runge war sich wohl schon zu diesem Zeitpunkt der praktischen Schwierigkeiten bewusst (Anm. 2), die mit einem solch anspruchsvollen Projekt verbunden waren; deshalb dachte er auch schon frühzeitig an andere Lösungen, für die sich spätestens seit Anfang März 1803 die Umsetzung als Radierungen herauskristallisierte (Anm. 3).
Der früheste Beleg für eine Beschäftigung mit den „Tageszeiten“ stammt wohl von Ende Dezember 1802, als Runge Daniel mitteilt, er wolle sich jetzt in seinen „Nebenstunden daran machen, mir einiges in Vorrath zu arbeiten, und ich habe das Fest über den Anfang gemacht, was mir über Erwartung geglückt ist.“ (Anm. 4) Auch Runges Einlassung von Anfang Januar 1803, dass er jetzt seinen Arbeitsablauf genau eingeteilt habe, und Tags über an seinem Gemälde „Lehrstunde der Nachtigall“ arbeite, und „des Abends und Sonntags […] allerley schöne andre Sachen“ mache (Anm. 5), dürfte sich auf den Fortgang der Arbeiten an den „Tageszeiten“ beziehen. Zwei Kompositionen – Tag und Abend – hatte Runge über die Festtage gemacht, wie er Karl gegenüber am 10. Januar mitteilt: „Ich habe das fest über wieder 2 hübsche Compositionen gemacht daß der Alte Graff ordentlich sagte, ja mein seel, ich wolte ich hätte sie gemacht.“ (Anm. 6) Am 16. Januar hatte Runge „zwey von meinen großen Arabesken fertig; dazu gehören noch zwey“ (Anm. 7), an denen er Ende Januar zeichnete, die er, da er an der „Lehrstunde der Nachtigall“ arbeitete, aber „erst zu Ostern sauber fertig machen“ könne (Anm. 8).
Ende Januar beschrieb Runge in dem gleichen Brief die Zeichnung des „Morgens“ genauer: „Unten ist ein leichter Nebel, aus welchem eine große Lilie grade heraus wächst. Vier Knospen fallen von beiden Seiten in Bogen wieder herunter, auf welchen vier Kinder sitzen, die Musik machen; die Knospen thun sich auf, und es fallen Rosen und bunte Blumen heraus auf den Nebel, der sich von ihnen färbt. In der Mitte des Bildes steigt die aufgeblühte Lilie, hell wie ein Licht schnurgerade in die Höhe, und in dem Kelche auf jedem Blatte sitzt ein Kind; die beiden Mittleren nach vorn haben sich umfaßt und sehen einander in die Augen: die beiden zur Linken vertiefen sich mit dem Blick in den Kelch; und die beiden zur Rechten in das, was über ihnen ist, nämlich die Staubfäden, auf welchen drey stehen und sich umfaßt halten, und das Pistill der Lilie in die Höhe halten, auf welchem die Venus – der Morgenstern – sitzt; dieser wird vergoldet. Der Himmel ist oben ganz dunkelblau, welches sich allmählich heller gegen den Nebel nach unten verliert, so daß die Lilie mitsammt den Kindern wie ein großes Licht erscheint. Auf beiden Seiten fallen die Wolken herunter, deren Bänder hell beleuchtet sind. Nach unten sammelt sich das Farbige immer mehr, so daß es einen Sonnenaufgang bildet, der eben nicht leicht darin zu verkennen seyn wird. Das Licht ist die Lilie, und die drey Gruppen haben, wie sie gestellt sind, wieder Beziehung auf die Dreyeinigkeit. Die Venus ist das Pistill, oder der Mittelpunkt vom Licht, und dieser habe ich mit Fleiß keine andre Gestalt als den Stern gegeben.“ (Anm. 9)
Runges Beschreibung stimmt in den Grundzügen – vor allem in der Schilderung der verschiedenen Geniengruppen – mit Inv. Nr. 34172 überein, doch bestehen auch Unterschiede, die nur den Schluss zulassen, dass Runge eine andere Fassung beschrieben hat. Die Gestaltung der gekrümmten Lilienstengel, aus deren Knospen keine Rosen herausfallen, aber auch das Fehlen der Wolken und des Nebels belegen diese Annahme. Das Fehlen der Rahmenkomposition ist entgegen Traeger allerdings kein Argument für diese Annahme, da sie in Runges Beschreibung keine Erwähnung findet. Runge hatte zunächst offensichtlich Fassungen ohne Rahmenkomposition konzipiert, wie sie sich für den „Abend“ in Winterthur noch erhalten hat (Anm. 10). Inv. Nr. 34172 weist aber links und rechts noch Reste einer Rahmenleiste auf, die belegen, dass links und rechts die gesamte Komposition überliefert ist. Das Blatt ist allerdings allseitig – oben ist der Stern beschnitten, unten endet die Komposition abrupt am Lilienstengel – beschnitten. In Kenntnis der anderen Entwürfe erscheint Inv. Nr. 34172 wie ein Teilentwurf, was Pauli zur Annahme verleitete, es handle sich um die „ausführlichere Bearbeitung des oberen Teils zu dem Entwurf für den Kupferstich“ (Anm. 11), doch sprechen nicht nur der gegenüber dem Kupferstich überdimensionierte Stern und das Fehlen der herabfallenden Rosen gegen eine solche Annahme, sondern auch die Maße der Zeichnung, die in Analogie zu dem Blatt in Winterthur ursprünglich nur geringfügig größere Maße erwarten lassen, was bedeutet, das vor allem oben und unten nur sehr schmale Streifen fehlen können (Anm. 12). Es ist anzunehmen, dass Runge in diesem frühen Stadium zunächst eine organischere, mehr an der Natur orientierte und weniger konstruierte Fassung vorlegte, die die Grundlage für die anderen Versionen bildete. Im Vergleich zu Inv. Nr. 34171 und 34174 ist das Strichbild insgesamt etwas lockerer gefügt und weicht teilweise von der sichtbaren Bleistiftvorzeichnung ab, was ein Indiz für eine frühe Entstehung sein dürfte. Sie bestätigt auch das Fehlen der Erdkrümmung, auf die später die gekrümmten Lilienstengel bezogen sind. Auf dem vorliegenden Blatt sind sie in ihrer Krümmung noch nicht einheitlich der Geometrie des Halbkreises unterworfen, sondern sind unterschiedlich gekrümmt, so dass alle vier Knospen gleich weit hinabreichen. Es ist deshalb anzunehmen, dass Runge zunächst keine Erdkrümmung, sondern in Analogie zum Entwurf für den „Abend“ eine einfache Bodenlinie vorsah. Waetzoldt hat deshalb das Blatt neben der Zeichnung zum „Abend“ in Winterthur als ersten Entwurf bezeichnet (Anm. 13), der zwischen Weihnachten 1802 und dem 16. Januar 1803 entstanden sein muss, als Runge zwei Arabesken fertig hatte (Anm. 14). Es ist deshalb wahrscheinlich, dass es sich bei den beiden Blättern um jene zwei über die Festtage 1802 entstandene Kompositionen handelt, die Anton Graff sah (Anm. 15).
Die am 30. Januar beschriebene Fassung des „Morgens“ muss hingegen als verloren gelten (Anm. 16), doch sah sie zunächst wohl auch kein Rahmenbild vor. Sie fehlt offensichtlich auch noch auf einer weiteren Fassung, die Runge am 22. Februar Daniel gegenüber erwähnt: „Den Morgen habe ich ganz wieder durchgearbeitet, […].“(Anm. 17) Traeger geht davon aus, dass es sich um eine neue Zeichnung handelt, „welche über das am 30. Januar beschriebene „Morgen“-Blatt hinausging“ (Anm. 18), und mit der dem Kupferstich bereits nahestehenden, genau konstruierten Zeichnung Inv. Nr. 34171 nicht identisch ist. Er hält es für wahrscheinlich, dass es sich vielmehr um das heute fehlende, erste Blatt der im Format übergroßen Folge handelt, zu der Inv. Nr. 34168, 34175 und 34179 gehören.

Peter Prange

1 Brief vom 22. Februar 1803 an Daniel, vgl. HS I, S. 202.
2 Vgl. Brief vom 30. Januar 1803 an Daniel, vgl. HS I, S. 33.
3 Erstmals spricht Runge im Brief vom 9. März 1803 an Pauline aus Ziebingen von „4 Radirungen“, vgl. Philipp Otto Runge. Briefe in der Urfassung, hrsg. von Karl Friedrich Degner, Berlin 1940, S. 95. Ob Runge bereits vor der Reise plante, den Zyklus als Druckgraphiken herauszugeben, wie Traeger 1975, S. 346 mutmaßt, ist deshalb fraglich.
4 Brief vom 28. Dezember 1802 an Daniel, vgl. HS II, S. 190. Vgl. auch den Brief vom 13. Januar an den Vater, vgl. HS I, S. 29-30. Jensen 1977, S. 115, verweist zudem auf einen Brief Runges vom 10. Oktober 1802 an Pauline, in dem Runge sein Schaffen im Wechsel der Jahreszeiten als Teil der göttlichen Schöpfung begreift.
5 Brief vom 5. Januar 1803 an Daniel, vgl. HS II, S. 192.
6 Brief vom 10. Januar 1803 an Karl, vgl. Degner 1940, S. 89.
7 Brief vom 16. Januar 1803 an Daniel, vgl. HS II, S. 195.
8 Brief vom 30. Januar 1803 an Daniel, vgl. HS II, S. 199.
9 Brief vom 30. Januar 1803 an Daniel, vgl. HS I, S. 31.
10 Der Abend, Feder in Schwarz, 725 x 518 mm, Winterthur, Stiftung Oskar Reinhart, vgl. Traeger 1975, S. 344, Nr. 266, Abb.
11 Pauli 1916, S. 35, Nr. 48.
12 Diese Hypothese trifft allerdings nur unter der Voraussetzung zu, dass das Blatt in Winterthur seine ursprüngliche Größe besitzt, was der Verfasser nicht am Original überprüfen konnte.
13 Waetzoldt 1954, S. 236, und S. 247, Anm. 9.
14 Vgl. Anm. 5.
15 Vgl. Anm. 4.
16 Vgl. Traeger 1975, S. 344, Nr. 267-269.
17 Brief vom 22. Februar 1803 an Daniel, vgl. HS I, S. 36.
18 Traeger 1975, S. 344, Nr. 270.

Details about this work

Feder in Grau über Bleistift 733mm x 478mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 34172 Collection: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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