Philipp Otto Runge

Brustbild des Apostels Johannes (Studie zum Gemälde "Die Berufung Petri"), 1806

recto + verso:
Auf den acht Blättern, die teilweise beidseitig benutzt wurden, befinden sich insgesamt elf Studien zu den Köpfen der Apostel. Daniel erwähnt diese Kreidestudien unter besonderer Hervorhebung der Gruppe von Christus und Petrus (Inv. Nr. 34159): „Auch ist ein sehr schöner Federumriß der Gruppe von Christus und Petrus auf braunem Papier da. Die Köpfe der Jünger hat R. alle noch einzeln in Kreideumrissen – Johannes und Judas ganz durchschraffirt – in größerem Maasstab entworfen.“ (Anm. 1) Im Mittelpunkt seines Interesses stand die ausdrucksvolle Mimik der Figuren, die vom angstvollen Erschrecken bei Judas und Thomas (Inv. Nr. 34162 recto), Staunen bei Philippus (Inv. Nr. 34164 verso) bis zu innerer Gefasstheit bei Johannes (Inv. Nr. 34161 recto) eine gegenüber dem ersten Entwurf (Inv. Nr. 34157) und dem Aquarell (Inv. Nr. 34158) erstaunliche Breite der psychischen Ausdrucksfähigkeit offenbart. Die Verwendung der malerischen, die Ausdrucksfähigkeit steigernde Kreide und farbiger oder farbig grundierter Papiere dienten dem Ziel, seelische Zustände überzeugend darzustellen.
Berefelt hat als Anregung für Runges Ausdrucksstudien auf die Kenntnis von Johann Caspar Lavaters „Physiognomischen Fragmenten“ (Anm. 2) hingewiesen, die bereits 1778 im „Wandsbecker Bothen“ des Matthias Claudius besprochen worden waren (Anm. 3). Außer auf Claudius als möglichen Vermittler hat Berefelt auch Frederike Brun genannt, die Lavater in pädagogischen Fragen nahestand (Anm. 4), doch könnte für die Vermittlung Lavaters auch der seit 1801 in Hamburg ansässige Johann Heinrich Wilhelm Tischbein verantwortlich sein. Dessen bereits 1796 in Neapel veröffentlichte Folge von Tierköpfen „Têtes de differents animaux, dessinées d’après nature pour donner une idée plus exacte de leurs caractères“ stand deutlich unter Lavaters Einfluss und auch später nach seiner Übersiedelung nach Hamburg beschäftigte sich Tischbein, wohl auch im teilweisen Austausch mit Runge, weiterhin mit Lavaters physiognomischen Ideen (Anm. 5). Im Juli 1806, nach seiner Rückkehr von Rügen, hatte Runge Daniel von seinen Fortschritten berichtet, die er im Portraitieren von Familienmitgliedern gemacht hätte: „Ich glaube durch die größere Routine die Physiognomie auch mehr in dem Sinn, wie Tischbein es meynt, zu fassen.“ (Anm. 6) Die Ähnlichkeit zwischen Runges Christus und Lavaters als ideales Antlitz Christi bezeichnete Studie in den „Physiognomischen Fragmenten“ auf die Hohl hingewiesen hat (Anm. 7), belegen Runges Vertrautheit mit Lavater, dessen Kenntnis ihm durch Tischbein vermittelt sein dürfte. Auch Runges Kopien nach Tischbeins Fuchskopf entstanden 1805 letztlich unter dieser physiognomischen Fragestellung (vgl. Inv. Nr. 1938-1 verso, 1938-137, 1938-187, 34149).
Berefelt hat zudem auf Raffael Morghens seit 1800 weit verbreiteten Kupferstich nach Leonardos „Abendmahl“ verwiesen (Anm. 8). Insbesondere die Physiognomie von Judas und die abwährende Geste von Thomas scheinen direkt vom Apostel Philippus Maior auf Morghens Stich angeregt zu sein (Anm. 9). Auch hat Berefelt auf Runges Besuch von Franz Joseph Galls phrenologische Vorlesungen im Jahre 1806 in Hamburg aufmerksam gemacht, von denen Daniel berichtet hat (Anm. 10). Neben diesen möglichen Anregungen darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass sich Runge wohl im Rahmen seiner Beschäftigung mit der „Odyssee“ schon früh ähnlichen Ausdrucksstudien widmete (vgl. Inv. Nr. 1938-108, 1938-109 und 1938-126), doch erklärt sich damit nicht der gravierende Unterschied zwischen Aquarell (Inv. Nr. 34158) und dem unvollendeten Gemälde (Anm. 11). Die großformatigen Kreidestudien entstanden erst im Hinblick auf die Ausführung des Gemäldes, in dem Runge den „mimischen Ausdruck als Manifestation des Göttlichen [herausarbeitet]. Die Gotteserfahrung teilt sich als innere Regung mit, deren äußerliches Zeichen der Gefühlsausdruck ist. Über die Darstellung dieses Affektzustandes kann sich dem empathischen Betrachter die Gotteserfahrung mitteilen.“ (Anm. 12)
Daniel hat die einzelnen Blätter mit den Namen der dargestellten Apostel versehen, doch hat er die Beischriften auf den Kopfstudien von Simon (Inv. Nr. 34166) und Bartholomäus (Inv. Nr. 34161 verso) vertauscht (Anm. 13). Traegers Annahme, die Apostelstudien hätte Runge unverändert in das Gemälde übernommen (Anm. 14), ist für die Studie zum Petruskopf (Inv. Nr. 34160) unzutreffend; er steht dem Petrus auf dem Aquarell näher und ist wahrscheinlich als eine der ersten Apostelköpfe entstanden. Der Zusammenhang mit dem Petrus der Christus-Petrus-Gruppe (Inv. Nr. 34159) ist offensichtlich, doch setzt Runge deren Stilisierung in einem „altdeutschen“ Sinne durch die Verwendung der malerischen Kreide in eine glaubhaftere Ausdrucksgebärde um. Die Verwendung der weicheren, auch im Gegensatz zur linearen Feder malerischeren Kreide führte Runge weg von der übersteigerten Stilisierung hin zu einer überzeugenden Ausdrucksgebärde der Apostel. Diesen Ansatz verdeutlicht bereits die Christus-Petrus-Gruppe (Inv. Nr. 34159), auf der oberhalb der Gruppe der Kopf Christi als malerische Kreidestudie erscheint. Die anderen Apostelstudien hat Runge zeichnerisch durchaus unterschiedlich behandelt, was schon Daniel bemerkte. Johannes und Judas sind „ganz durchschraffirt“, was wohl ihrer Bedeutung für das Bildgeschehen geschuldet ist (Anm. 15). Der Zusammenhang eines von Daniel nicht bezeichneten Apostelkopfes (Inv. Nr. 34164 recto) mit dem Gemälde, auf dem er nicht erscheint, bleibt fraglich. Isermeyer glaubte den Kopf des Judas auf dem Studienblatt Inv. Nr. 34275 wiederzuerkennen (Anm. 16).
1 Vgl. HS I, S. 348.
2 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Leipzig-Winterthur 1775-1778.
3 Asmus omnia sua secum portans, oder sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen III, Breslau 1778, S. 33-42.
4 Berefelt 1961, S. 163, Anm. 1.
5 Zu Tischbeins Beschäftigung mit Lavater vgl. Peter Reindl: Tischbeins Entwurf zu einer physiognomischen Systematik für den Historienmaler, in: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751-1829). Das Werk des Goethe-Malers zwischen Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur, hrsg. von Arnd Friedrich, Fritz Heinrich und Christiane Holm, Petersberg 2001, S. 75-102.
6 Brief vom 5. Juli 1806 an Daniel, vgl. HS II, S. 311.
7 Hohl, in: Runge 1977, S. 184.
8 Berefelt 1961, S. 163-164.
9 Berefelt 1961, S. 164, Anm. 4.
10 Vgl. HS II, S. 500.
11 Petrus auf dem Meer, Öl/Lw, 116 x 157 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr. 1007, vgl. Traeger 1975, S.411-412, Nr. 369, Abb.
12 Pütz 2013, S. 233.
13 Vgl. Hohl, in: Runge 1977, S. 187, Nr. 158.
14 Traeger 1975, S. 409, Nr. 362.
15 Traeger 1975, S. 408.
16 Isermeyer 1940, S. 130.

Details about this work

Schwarze und weiße Kreide auf graunbraun grundiertem Papier 392mm x 280mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 34161 Collection: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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