Philipp Otto Runge

Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, 1805/6

Nachdem Runge gegenüber seinem Bruder Carl am 4. Mai 1805 angekündigt hatte, Carl Schildener „einige Scitzen zu schicken“ (Anm. 1), übersandte er ihm am 10. Mai „eine schön in Tusch ausgeführte Zeichnung (aber von weit geringerem Werthe als die oben angeführte in Federumrissen [vgl. Inv. Nr. 34258], also nur erster Entwurf) […], nebst der Zeichnung Quelle und Dichter.“ (Anm. 2) Runge schrieb dazu: „Ich bin mit der zweyten derselben dieser Tage fertig geworden, und wollte sehr anfangen, diese beiden Entwürfe als Skizzen, d. h. ausgeführte, zu mahlen, um den ganzen Effect zu sehen und so den Gedanken deutlicher herauszuheben. Ich hatte im Anfange zwar nicht darauf gedacht, nun scheint es mir aber doch, als könnten es ein paar recht hübsche Gegenstände werden von Morgen und Abend. Ueberdies liegt die Bedeutung des Abends (in der Quelle) in der Zusammen= und Gegeneinanderstellung der Farben; es würde ein Abend des Abendlandes seyn, der vor dem Aufgange dieses Morgens (in der Flucht) hergeht, wo nämlich hinter dem Walde die Sonne noch glüht, und das unausgesprochene Wort den Menschen wie Musik mit unnennbarer Wehmuth nach sich zieht, und die Kinder der Blumen, oder die Gestalten der Farbe, wie Blasen und Geister sich um seinen Fuß schlingen und ihn zurückhalten in ihrer lieblichen Mitte. Ich habe dieses Gefühl lange mit mir herumgetragen und es ist für mich, des Aufschlusses wegen, den es mir in’s innere Wesen der Farben hinein gegeben, sehr merkwürdig, und würde mir, wenn ich es als einen Versuch in Farben ausarbeiten, sehr lehrreich seyn. – In dem Morgen concentriert sich das ganze Bild auf den Mittelpunkt; auch würde (da, wie sich von selbst versteht, die Gestalten auch nicht ihren innern geistigen Zusammenhang haben) sich alles mehr in diesem Punct hinein winden und ringen, so daß das Kind aus dem Schatten heraus mit der Hand in den ersten Sonnenstrahlen spielte. Das Kind soll der bewegteste, lebendigste Moment des Bildes werden, so daß dieses Leben hier gleichsam wieder wie ein Anfang anzusehen, der sich über das gebildete Land vor ihm erhebt. Joseph ist in dieser Zeichnung noch am wenigsten, was er seyn soll, und Sie werden schon selbst von der ersten zusammengreifenden Skizze eines Gedankens nichts zu verlangen wissen, das zuletzt nur in dem vollendeten Bilde liegen kann.“ (Anm. 3)
Die zugeschickte Zeichnung „Quelle und Dichter“ war bereits Ende März vollendet (vgl. Inv. Nr. 34257), während die „Ruhe auf der Flucht“ „dieser Tage fertig geworden“ war, also nicht vor Anfang Mai entstanden sein kann. Da Daniel von einer „Tuschzeichnung“ spricht, die Schildener übersandt wurde, kann es sich dabei nur um Inv. Nr. 34152 handeln, das annähernd die gleichen Maße wie „Quelle und Dichter“ aufweist, und sich deshalb nicht nur aus formalen Gründen als Gegenstück eignete, sondern auch aus kompositorischen, wenn man etwa an den Gegensatz von geschlossener und offener Form oder die gleichartige Verteilung der Figuren in der vorderen Ebene denkt. Runge hatte, wie er selbst schreibt, zunächst „nicht darauf gedacht“, doch dann diesen Zusammenhang für Schildener hergestellt. Es charakterisiert die von Daniel bemerkte Tendenz, „verschiedene Darstellungen in eine fortschreitende Verbindung zu bringen.“ (Anm. 4) Aufgrund dieser nachträglichen Verknüpfung ist es wahrscheinlich, dass Inv. Nr. 34152 zunächst unabhängig von „Quelle und Dichter“ entstand, doch ob Runge das Blatt bereits in Erwartung des Greifswalder Auftrags zeichnete, von dem er vor dem 3. Mai erfahren hatte (Anm. 5), bleibt ungewiss.
Die wichtigste Änderung gegenüber der ersten Kompositionsskizze (vgl. Inv. Nr. 1938-1 r, 1938-137 v, 1938-187 v und 34149 v) betrifft Joseph, der statt am linken Bildrand zu stehen sich nun niedergesetzt hat, um auszuruhen. Neben ihm erscheint der Esel; während er unbekümmert Disteln frisst, ist Josephs Gesicht von tiefen Furchen durchzogen, die seine Sorge über das Schicksal des Kindes ausdrückt. Das Sitzmotiv mit dem aufgestützten Arm verkörpert den Typus des in sich gekehrten Melancholikus, den Runge durch seine Lichtregie - Joseph und der Esel erscheinen als der Nacht zugehörig in einer Schattenzone – noch zusätzlich herausarbeitet. Maria und das Kind dagegen erscheinen im morgendlichen Sonnenlicht, der hochgereckte linke Arm des Jesuskindes wird von einem ersten Sonnenstrahl getroffen. Es ist der „bewegteste, lebendigste Moment“, auf den die Komposition konzentriert ist. Gegenüber Goethe, dem Runge 1808 das Blatt zugesandt hatte, beschrieb Runge die Lichtsituation folgendermaßen: „Maria und Joseph haben mit dem Kinde am Abhang eines Berges die Nacht ausgeruht, der erste Sonnenstrahl fällt über die Gruppe, und das Kind langt mit der Hand hinein. In dem Tal liegt noch der Schatte, und auf den obersten Spitzen spielt das Licht nur. Ein großer Tulpenbaum breitet sich darüber aus, und drei Engel musizieren dem Licht entgegen. Joseph und der Esel sind im Schatten; er schlägt das Feuer aus, was die Nacht gebrannt hat.“ (Anm. 6) Während Runge in seiner ersten eigenständigen, noch in der späten Kopenhagener Zeit entstandenen Beschäftigung mit dem Thema die Geschichte als genrehafte Familienszene gestaltete (Anm. 7), ist bereits das vorliegende Blatt von einem symbolhaften Geist erfüllt, der auf die „innere Verwandtschaft“ deutet, die die „Ruhe auf der Flucht“ mit „seinem Morgen, der den Anfang unter seinen Tageszeiten machen mußte, haben sollte.“ (Anm. 8) Die inhaltliche Nähe zum „Morgen“ dürfte Runge auch veranlasst haben, das Blatt noch 1808 zusammen mit Inv. Nr. 34155 an Goethe zu senden (Anm. 9).
Daniel hatte das Blatt als „ersten Entwurf“ eingestuft und seine Qualität weit geringer eingeschätzt als die dem Gemälde unmittelbar vorausgehende Umrisszeichnung Inv. Nr. 23258 (Anm. 10). Tatsächlich hat Runge eine etwas sperrige Komposition geliefert, die in der Zeichenweise und der monochromen Farbigkeit eher an spätbarocke Traditionen erinnert, was für das 1805 erstaunlich genug ist, doch offenbart sich in dem Urteil auch ein Umgang mit dem zeichnerischen Werk Runges, der ältere Traditionen in seinem Werk weitgehend negiert bzw. selektiert und ganz auf die Neuartigkeit der Zeichnung Runges fokussiert ist.

Peter Prange

1 Brief vom 4. Mai 1805 an Carl, vgl. Philipp Otto Runge. Briefe in der Urfassung, hrsg. von Karl Friedrich Degner, Berlin 1940, S. 269.
2 Vgl. HS I, S. 247.
3 Brief vom 10. Mai 1805 an Carl Schildener, vgl. HS I, S. 247-248.
4 Vgl. HS I, S. 247.
5 Vgl. Brief vom 3. Mai 1805 an Johann Gottfried Quistorp, vgl. HS II, S. 289.
6 Maltzahn 1940, S. 87.
7 Ruhe auf der Flucht, Öl/Lw, 24,2 x 33,5 cm, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek, Inv. Nr. 15437, vgl. Jörg Traeger: Aus Philipp Otto Runges Anfängen als Maler. Eine frühe Fassung der "Ruhe auf der Flucht". Mit Bemerkungen zu Otto Sigismund Runge, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 55, 1992, Nr. 4, S.
8 HS II, S. 499. Zum christlich-kosmischen Sinn vgl. Traeger 1975, S. 62.
9 Maltzahn 1940, S. 87.
10 Vgl. HS I, S. 247.

Details about this work

Feder und Pinsel in Schwarz und Grau über Bleistift; Einfassungslinie (Feder in Schwarz) 540mm x 722mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 34152 Collection: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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