Marcantonio Raimondi, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Zeichiner, Erfinder

Die Poesie, um 1515

Von den zahlreichen Figuren und Szenen der Decke der Stanza della Segnatura fand bei Künstlern die durch Lyra und Lorbeerkranz charakterisierte Allegorie der Poesie besonderes Interesse. Diese geflügelte, hoheitsvolle Figur wurde nicht nur mit den drei benachbarten weiblichen Allegorien in mehreren Serien wiedergegeben (Inv.-Nr. 3152r1), sondern bereits um 1515 von Marcantonio Raimondi auf einem Einzelblatt dargestellt. (Anm. 1) Auf den ersten Blick erinnert dessen seitengleicher Kupferstich unverkennbar an Raffaels Komposition. So ist die würdevolle Haltung der Poesie mit ihren ausgebreiteten Flügeln, dem Buch und der Lyra grundsätzlich übereinstimmend. Bei näherer Betrachtung finden sich aber zahlreiche Unterschiede. Dies betrifft etwa die Gewandung im Brustbereich oder die veränderte Anordnung der Blätter des Lorbeerkranzes. Auffallend ist auch das Fehlen des Thrones mit dem antikischen Kopf. Weitreichende Unterschiede zeigen auch die Haltungen der beiden Putti, wobei die auf dem Fresko auf zwei Tafeln verteilte Inschrift hier bei fehlerhafter Schreibweise auf eine konzentriert ist. (Anm. 2) Letztlich verändert der Stich die Tondoform ins Hochrechteck.

All diese Beobachtungen weisen darauf hin, dass der Stich nicht direkt nach dem Deckenbild entstanden ist. Vielmehr muss Raimondi auf eine heute nicht mehr nachweisbare Zeichnung Raffaels zurückgegriffen haben. Diese war im Zuge des Werkprozesses entstanden, dann aber vom Meister für das Fresko verworfen worden. Dennoch erkannte Raffael in der Komposition enormes Potential, um sie in einen Stich übertragen zu lassen. Das Ergebnis fiel beeindruckend aus und fand hohe Wertschätzung bei Kennern. (Anm. 3)

Unbestreitbar ist etwa, dass die Komposition auch im Hochformat bestens ‚funktioniert‘. Die Figuren können sich im größeren Umraum sogar freier entfalten. Dies gilt für die Putti, aber auch für die Poesie, deren Präsenz durch die nun vollständig sichtbaren Flügel gesteigert wird.

Der lebendige und kraftvolle Eindruck des Kupferstichs basiert auch auf Raimondis subtiler technischer Ausführung. (Anm. 4) Beeindruckend ist die differenzierte Wiedergabe der Stoffe, beispielsweise der Gewebe oder der Federn. Subtil sind die Gesichtsausdrücke charakterisiert, wirkungsvoll Licht und Schattenzonen herausgearbeitet. Nicht zuletzt die raffinierte Behandlung der dunkelsten Partien rückt das Werk in die Nähe des Kupferstichs nach Raffaels Hl. Cäcilie (Inv.-Nr. 202). Dies legt eine Entstehung um 1515 nahe.
David Klemm

LIT (Auswahl): Bartsch XIV (1813), S. 291, Nr. 382; Shoemaker 1981, S. 110–111,
Nr. 27; Gramaccini/Meier 2009, S. 154–155, Nr. 62 (Beitrag Hans Jakob Meier;
mit älterer Lit.)

1 Vgl. Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 42, Nr. VI.1.
2 Von dem Stich existiert auch eine Fassung ohne Inschrift; vgl. Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 42, bei Nr. VI.1. Die Inschrift lautet korrekt wie in der Stanza ausgeführt: „NVMINE AFFLATVR“ „Von der Gottheit inspiriert/angehaucht“, nach Vergil, Aeneis Buch 6, 50 f. Gemeint ist hier der christliche Geist, da geflügelte Putti und nicht Genien die Schrifttafeln der Philosophie halten.
3 So etwa bei Delaborde; vgl. Ausst.-Kat. Lawrence/Chapel Hill/Wellesley 1981,
S. 110. Der Stich fand schnell Nachahmung, etwa durch Giulio Bonasone; vgl. Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 42, Nr. VI.2.
4 Ausst.-Kat. Lawrence/Chapel Hill/Wellesley 1981, S. 110.

Details about this work

Kupferstich; aufgezogen und fest aufgelegt; oben rechts Fehlstelle 178mm x 150mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 313 Collection: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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