Matteo Piccioni, Radierer
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, zugeschrieben, Maler, Erfinder
nach Federico Zuccari (?), zugeschrieben, Maler, Erfinder

Der Hl. Lukas malt in Anwesenheit Raffaels das Bildnis der Jungfrau mit dem Kind, 1635/71 (um 1655?)

Im Jahr 1593 wurde unter Papst Gregor XIII. in Rom die aus einer Künstlervereinigung von 1577 hevorgegangene Accademia di San Luca offiziell gegründet. Der Patron der Akademie war der Evangelist Lukas, dem traditionell nachgesagt wurde, er habe das Urbild der Madonna nach einer göttlichen Erscheinung als Erster auf die Leinwand gebannt. Ein Beispiel dieser Darstellung, deren Ikonographie bis weit in das frühe Mittelalter zurückreicht, ist das ebenfalls in einem Akademie-Zusammenhang nach 1565 entstandene Fresko Giorgio Vasaris in der Cappella di San Luca – der Kapelle, der 1563 unter Cosimo I. de’Medici in Florenz gegründeten Accademia del Disegno – im Nordflügel des Kreuzgangs der Florentiner Kirche Santissima Annunziata. (Anm. 1) Bereits zu dieser frühen Zeit tauchte innerhalb der Akademie ein Gemälde auf, das den Heiligen beim Malen der Madonna zeigt, neben ihm sein Evangelisten-Symbol, der Stier, und die in Andacht versunkene Figur eines stehenden Mannes, der wohl als Gehilfe des Evangelisten zu sehen wäre, aber von Beginn an als Bildnis des jugendlichen Raffael interpretiert wurde. (Anm. 2)
Noch Johann Wolfgang von Goethe beschrieb das Gemälde 1788 in seiner Italienischen Reise und war der festen Überzeugung, es sei von der Hand Raffaels: „Das liebenswürdige Bild von des Künstlers Hand, St. Lucas, dem die Mutter Gottes erscheint, damit er sie in ihrer vollen göttlichen Hoheit und Anmut wahr und natürlich darstellen möge, gewährte den heitersten Anblick, Raffael selbst, noch jung, steht in einiger Entfernung und sieht dem Evangelisten bei der Arbeit zu. Anmutiger kann man wohl nicht einen Beruf, zu dem man sich entschieden hingezogen fühlt, ausdrücken und bekennen.“ (Anm. 3)
Doch das ikonographisch bedeutende und kunstheoretisch hochinteressante Bild ist sicher kein Werk Raffaels, es wird inzwischen als „ein pasticcio des Gründungsdirektors“ der Accademia di San Luca, Federico Zuccari, angesehen. (Anm. 4) Es ist ein Programmbild der Akademie, die sich neben dem hl. Lukas, ihrem Patron, auch auf Raffael als Leitfigur berief. Federico Zuccari schuf in dem gezeichneten Zyklus zum Leben seines Halbbruders Taddeo Zuccari auch zwei (verschollene) Zeichnungen, in denen er Michelangelo als Moses und Raffael als Jesaja erscheinen ließ; in letzterem wurde von den Zeitgenossen bereits ein Porträt des Urbinaten gesehen. (Anm. 5) Diese postumen Bildnisse der beiden Leitsterne der römischen Malerakademie, präsentiert in ihren eigenen Werken, führte Zuccari auch als Ölbilder aus, die sich heute in Macerata befinden. (Anm. 6)
Zuccari und die Maler seines Kreises folgten bei dieser Glorifizierung Raffaels den Ausführungen des Kunstschriftstellers Lodovico Dolce, der diesen (und als gebürtiger Venezianer auch Tizian) neben den von Vasari als einzigem Höhe- und Endpunkt der Kunst angesehenen Michelangelo positionieren wollte und dafür höchstwahrscheinlich den sog. Idea-Brief Raffaels an Baldassare Castiglione kongenial erfunden hat. (Anm. 7)
Der eher seltene Kupferstich Piccionis (Anm. 8) gibt das Gemälde in der Accademia di San Luca, das den Raffaelkult über Jahrhunderte am Leben erhielt, seitenverkehrt wieder. Piccionis künstlerische wie technische Leistung steht, besonders in der getreuen Wiedergabe der Physiognomien des Evangelisten und Raffaels, der des Cornelis Bloemaert II, welcher das Gemälde 1633 reproduzierte, und dem Stich von Jean Langlois (Anm. 9) weit nach. (Anm. 10) Dennoch scheint es keine Kopie nach Bloemaerts Stich zu sein, da dieser an der Staffelei motivisch einen Querbalken einführte, der auf dem Gemälde in der Akademie, wie bei Piccioni, nicht vorhanden ist.
Die in der Widmung angeführte Erwähnung Kardinal Francesco Barberinis als Vizekanzler der Heiligen Römischen Kirche, also als Leiter der päpstlichen Kanzlei, hilft für eine genauere Datierung des Stiches nicht weiter, da dieser außergewöhnlich lang, von 1632 bis 1679, das Amt innehatte. Am ehesten wird das Blatt um 1655 oder danach entstanden sein, als Piccioni in die Akademie aufgenommen wurde.
Andreas Stolzenburg

LIT (Auswahl): Bartsch XXI (1821), S. 163, Nr. 1; Andresen 1873, Bd. 2, S. 294,
Nr. 3; vgl. Ausst.-Kat. Rom 2020c, S. 41–43, Nr. 3 (Beitrag Stefania Ventra)

1 Corti 1989, S. 121, Nr. 98. Das von Vasari begonnene Fresko wurde erst 1573 von Alessandro Allori vollendet.
2 Meyer zur Capellen 2005, S. 282–283, Nr. X 23 (Rejected attribution); Pfisterer 2019, S. 319, Abb. 212; vgl. ausführlich Schröter 1999.
3 Goethe/von Einem 1978, S. 549–550.
4 Pfisterer 2019, S. 319. Zur komplexen Restaurierungsgeschichte des Bildes und verschiedenen Kopien, u. a. von Antiveduto Grammatica, siehe Ventra 2014 (hier als „Raffaello?“ bezeichnet). Vgl. auch Acidini Luchinat 1999, Bd. 2, S. 179, Abb. 3 (hier als Federico Zuccaris unter möglicher Mitarbeit von Scipione Pulzone); vgl. Ausst.-Kat. Rom 2020c, S. 31–59, Nr. 1–9.
5 Vgl. Winner 1987, S. 392, Anm. 50.
6 Bildnis Michelangelos als Moses“ und Bildnis Raffaels als Jesaja, um 1593, Öl auf Leder, je 138 x 62 cm, Macerata, Musei Civici di Palazzo Buonaccorsi; Ausst.- Kat. Rom 2011, S. 327–328, Nr. 165–166, Abb. S. 246.
7 Ebd., S. 317. Zu dem Brief siehe Dolce 1554, S. 226. Vgl. Shearman 1994; Shearman 2003. John Shearman versuchte noch, den programmatischen Brief Castiglione zuzuschreiben, doch die Erfindung durch Lodovico Dolce scheint heute wohl am plausibelsten.
8 Nicht vorhanden in London, Rom und Stuttgart.
9 Thimann 2015, S. 19, Abb. 6.
10 Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 216–217, Nr. III.1; Höper 2001, S. 279, Nr. C 23.1, Abb 289. Vgl. spätere Reproduktionen des Bildes von Jean Langlois und Giancarlo Thevenin; Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 217, Nr. III.2 und III.3; Höper 2001, S. 279, Nr. C 23.2. Thevenins Aquarellkopie im Istituto Nazionale per la Grafica, Rom; Ventra 2014, S. 200, Abb. 56 (Abb. 57: Aquarellkopie von Nicolas Ortis)

Details about this work

Radierung 280mm x 202mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 2375 Collection: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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