Marcantonio Raimondi, Stecher
Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Erfinder

Lucretia mit dem Dolch, um 1510/11

Raffael war einer der ersten Maler, der zur Verbreitung seiner Kompositionen im größeren Umfang gezielt auf das Medium der Druckgraphik zurückgriff. (Anm. 1) Anders als beispielsweise Leonardo da Vinci, interessierte sich Raffael nachdrücklich dafür, dass seine Bilderfindungen eine breitere Öffentlichkeit erreichen konnten. Dabei ist von Interesse, dass er im Gegensatz etwa zu seinem Zeitgenossen Albrecht Dürer niemals selbst als Graphikertätig war. Raffael und teilweise auch seine Werkstattmitarbeiter lieferten die zeichnerischen Erfindungen, die dann von kompetenten Stechern in das Medium der Druckgraphik übersetzt wurden. Diese Vorlagen waren teils gezielt für den Druck entworfen, in vielen Fällen aber auch eine Art Weiterverwendung von Studien für Gemälde und Fresken. Für diese Form der Kooperation stand Raffael ab ca. 1510 mit dem kurz zuvor aus Bologna nach Rom gekommenen Kupferstecher Marcantonio Raimondi ein kongenialer Partner zur Verfügung. Aufgrund des großen Erfolges stießen ab etwa 1515 weitere sehr begabte Graphiker – Agostino Veneziano, Marco Dente oder Ugo da Carpi – dazu. Gemeinsam schufen sie in den folgenden Jahren zahlreiche Druckgraphiken, die gemeinhin als Raffael Graphiken bezeichnet werden. Diese Werke trugen wesentlich dazu bei, dass Raffaels Erfindungen bereits zu seinen Lebzeiten, aber auch weit darüber hinaus, große Wirkung entfalten konnten (Vgl. S. 18–20). Trotz fehlender schriftlicher Dokumente und des Verlustes zahlreicher Entwurfszeichnungen Raffaels können, nicht zuletzt dank neuerer Forschungen, wichtige Aussagen zu den Arbeitsabläufen gemacht werden. (Anm. 2) Demnach scheint sicher, dass Raffael sehr planmäßig die Produktion der Druckgraphik steuerte. Er war an der Auswahl der Motive beteiligt, bereitete auf akribische Weise deren Umsetzung vor und kümmerte sich auch um bisweilen notwendige Korrekturen. Trotz dieses starken Engagements vermochten Raimondi und seine Mitarbeiter kraftvolle eigene Akzente zu setzen. Dies betraf vor allem die individuelle graphische Umsetzung, bisweilen aber auch die Ausführung kompositioneller Details. Ein frühes Beispiel der so folgenreichen Zusammenarbeit zwischen Raffael und Raimondi stellt der Kupferstich mit der unglücklichen Römerin Lukretia dar. Diese war durch den römischen König Sextus Tarquinius vergewaltigt worden, was sie aus Verzweiflung in den Selbstmord trieb (Livius, Ab urbe condita, Buch 1, 56,3–60,4). Die Darstellung zeigt den Moment unmittelbar vor dem Freitod. Lukretia steht trotz ihres Schmerzes in würdevoller Haltung vor einem antiken Portikus, im Hintergrund sind links das Kolosseum und rechts eine eher nordisch wirkende Landschaft zu sehen. Die griechische Inschrift verewigt gleichsam das Motiv für den Freitod, denn Lukretia wollte lieber sterben als in Schande weiterleben. Es wird seit langem darüber diskutiert, welcher Stellenwert diesem Kupferstich in Bezug auf die Kooperation zwischen Raffael und Raimondi zukommt. So wurde angenommen, dass Raimondi das Werk ohne Auftrag Raffaels, aber nach einer Zeichnung von diesem ausführte. Dieser Stich habe dann Raffaels Aufmerksamkeit auf Raimondi gelenkt und sei der Startpunkt ihrer Zusammenarbeit geworden. (Anm. 3) Dies ist allerdings trotz einer darauf hindeutenden Aussage Vasaris nicht sicher zu belegen. (Anm. 4) Noch etwas früher dürfte eine Druckgraphik mit einer formal recht ähnlichen Darstellung von Dido anzusetzen sein. Denn Raimondis Lukretia erscheint wie eine überarbeitete Version dieses in manchen gestalterischen Details noch unsicheren Stichs. (Anm. 5) Dass Raimondi bei diesen Druckgraphiken mindestens auf eine Vorstudie Raffaels zurückgegriffen hat, wurde stets vermutet, kann aber erst durch eine erstmals 1984 von Julian Stock publizierte Raffael-Zeichnung als sicher angenommen werden. (Anm. 6) Die baumreiche Landschaft im Hintergrund geht dagegen auf Lucas van Leyden zurück und dürfte von Raimondi selbst hinzugefügt worden sein. Insgesamt gelingt dem Graphiker eine harmonische Zusammenfügung von Figur, Architektur und Natur. Im Gegensatz etwa zur Dido sind die Körperlichkeit der Lukretia wie auch die Hell-Dunkelpartien überzeugender herausgearbeitet.
Mit diesem sehr qualitätvollen Werk setzten Raffael und Raimondi schon am Beginn ihrer Zusammenarbeit ein beeindrucken des Zeichen. (Anm. 7) Weitere Spitzenwerke sollten nun in dichtem Abstand folgen.
David Klemm

LIT (AUSWAHL)
Bartsch XIV (1813), S. 155, Nr. 192; Ausst.-Kat. Lawrence/Chapel Hill/Wellesley 1981, S. 94-95, Nr. 20; Gramaccini/Meier 2009, S. 22-33 u. S. 150-151, Nr. 51 (Beitrag Hans Jakob Meier); Bloemacher 2016, S. 259-267; Ausst-Kat. Rom 2020a, S. 314-315, Nr. VII.12 (Beitrag Roberta Aliventi)

1 Bloemacher 2016, S. 7
2 Vgl. grundlegend Bloemacher 2016.
3 Gramaccini/Meier 2009, S. 32–33 und S. 150–151, Nr. 56 (Beitrag Hans Jakob Meier).
4 Vasari/Bettarini/Barocchi 5 (1984), S. 9.
5 Bloemacher 2016, S. 265.
6 Feder und braune Tinte über Kohle, 397 x 292 mm; Metropolitan Museum, New York, Inv.-Nr. 1997.153; vgl. Bloemacher 2016, S. 263–264. Die Raffael Zeichnung weist deutliche Ähnlichkeiten zur Figur der Lukretia auf, wobei der Kopf stärker dem der Dido ähnelt. Dies lässt den Schluss zu, dass es für die Dido-Darstellung noch eine weitere, nicht erhaltene Vorzeichnung gegeben haben muss. Meier hält es dagegen für wahrscheinlich, dass die neu aufgetauchte Zeichnung für Dido und Lukretia als Vorlage diente. Bei dieser Annahme wird Raimondi ein größerer eigenschöpferischer Anteil zugewiesen; vgl. Gramaccini/ Meier 2009, S. 150.
7 Ausst.-Kat. Rom 2020a, S. 315, bei Nr. VII.12

Details about this work

Kupferstich; aufgezogen und ergänzt; aufgelegt 215mm x 134mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 233 Collection: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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