Rembrandt Harmensz. van Rijn
Der Hl. Hieronymus, um 1649
Mit wenigen Strichen hat Rembrandt eine stimmungsvolle Szenerie entworfen: Im Schatten eines Baumes sitzt der Hl. Hieronymus bei der Lektüre, während der ihn begleitende Löwe ein sonniges Tal überblickt. Der südliche Charakter der Landschaft beruht nicht auf eigener Anschauung. Rembrandt fehlte die Zeit für eine Italienreise und er zog es vor, entsprechende Anregungen aus graphischen und malerischen Quellen zu ziehen. Die hier mit Pinsel und Rohrfeder festgehaltene Bildidee wurde weiterentwickelt in einer eigenhändigen Radierung. Dies ist eine Besonderheit im Œuvre des Künstlers: Für gewöhnlich setzte Rembrandt seine Entwürfe direkt auf die präparierte Kupferplatte.
Andreas Stolzenburg
Dieses Meisterwerk ist einer der seltenen Radierungsentwürfe Rembrandts – für gewöhnlich zeichnete der Künstler seine Bildideen direkt auf die präparierte Kupferplatte.(Anm.1) Mit der annähernd maßgleichen Radierung (H. 104, Inv.-Nr. 6223) stimmt die grundlegende Komposition spiegelverkehrt überein.(Anm.2) Leichte Abwandlungen der radierten Fassung wie die erhobene linke Vordertatze des Löwen und das auf sein linkes Hinterbein fallende Licht werden auf der Zeichnung bereits durch Deckweißkorrektur markiert.
Andere Partien sind auf der Radierung detaillierter ausgeführt, z. B. die Füße des Heiligen mit den abgelegten Sandalen.(Anm.3) Einschneidende Veränderungen finden sich in Lichteinfall und Landschaftsanlage; die Deckweißkorrekturen im Hintergrund geben Aufschluss über Rembrandts Suche nach der endgültigen Form. Auf der Zeichnung ist der Vordergrund in Schatten getaucht, auf der Radierung wird diese Lichtwirkung durch die vorn unbearbeitet gelassenen Partien genau in ihr Gegenteil verkehrt,(Anm.4) was eine fein austarierte diagonale Verklammerung der Szene zur Folge hat.(Anm.5) Der Kontrast zwischen der durchlichteten, fragil wirkenden Menschengestalt und dem kraftvoll verschatteten Tier deutet sich auf der Zeichnung bereits an im Gegensatz zwischen dem in sich gekehrten Heiligen und dem wachsam nach außen gewandten Löwen. Dieses „kontrapostische“ Element findet seine Entsprechung in der unterschiedlichen Behandlung von Vorder- und Hintergrund: Der flüssigen Pinselzeichnung und nassen Lavierung des Vordergrundes stehen die sperrig-trockenen Federstrukturen im Hintergrund diametral gegenüber.(Anm.6)
In der Gestaltung der Hintergrundlandschaft findet sich ein weiterer Unterschied zwischen Zeichnung und Druck: Während die Gebäude auf der Zeichnung noch unbestimmt nordisch anmuten, sind sie auf der Radierung deutlich von italienischer Graphik inspiriert, worauf wiederholt in der Literatur verwiesen wurde.(Anm.7) Im Zusammenspiel mit der von italienischer Druckgraphik abgeleiteten härteren Schraffur weist diese Orientierung auf eine Entstehung in den frühen 1650er Jahren.(Anm.8) Die Zeichnung wird etwas früher, vermutlich um 1649 entstanden sein, wie Schatborn nachweisen konnte.(Anm.9) Dabei gilt der weiche, bewegliche Linienstil als Kennzeichen dieser kurzen Stilphase, bevor sich Rembrandt auch im Zeichnerischen stärker mit oberitalienischen Einflüssen auseinandersetzte.(Anm.10)
Der Hl. Hieronymus – Schöpfer der lateinischen Bibelübersetzung („Vulgata“) – war als Prototypus des gelehrten Kirchenführers auch unter holländischen Protestanten hoch angesehen, und so ist seine häufige Darstellung bei Rembrandt und seinen Schülern nicht verwunderlich.(Anm.11) Unser Blatt bzw. die zugehörige Radierung stehen am Ende einer Reihe von insgesamt acht gezeichneten und radierten Darstellungen des Kirchenvaters. Vorausgegangen waren bereits sechs weitere Radierungen, deren früheste um 1629 angesetzt wird (H. 100–103, 105–106). Von diesen frühen Versionen unterscheidet sich unsere Darstellung nicht zuletzt in der Wiedergabe des Löwen, die vermutlich auf das Studium lebender Tiere zurückgeht.(Anm.12)
Annemarie Stefes
1 Vgl. Peter Schatborn: Tekeningen van Rembrandt in verband met zijn etsen, in: De Kroniek van het Rembrandthuis 38, 1986, Nr. 1, S. 1-37, S. 1–38; Bevers, in: Holm Bevers/Sölter 2008, Peter Schatborn, Barbara Welzel: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen, Ausst.-Kat. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Amsterdam, Rijksmuseum, London, National Gallery, München u.a. 1991/92, S. 167. Zweifel an Rembrandts Autorschaft finden sich lediglich bei Frits Lugt: Rezension zu Pauli 1924, in: La Revue d'Art 47, 1925.
2 Christopher White: Rembrandt as an Etcher, London 1969, S. 221 beobachtete darüber hinaus stilistische Parallelen in der Anwendung von Rohrfeder und Kaltnadel.
3 Dies unterstreicht den bukolischen Charakter der Darstellung und wurde darüber hinaus als ikonographischer Hinweis gedeutet, in Anlehnung an „Mose vor dem brennenden Dornbusch“, vgl. Christiane Wiebel: Askese und Endlichkeitsdemut in der italienischen Renaissance, Weinheim 1988, S. 96. Den bukolischen Charakter des zu einem Sonnenhut umgedeuteten Kardinalshutes auf der Radierung betonen Bevers, in: Holm Bevers/Sölter 2008, Peter Schatborn, Barbara Welzel: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen, Ausst.-Kat. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Amsterdam, Rijksmuseum, London, National Gallery, München u.a. 1991/92 und Schapelhouman, in: Erik Hinterding, Gert Luijten, Martin Royalton-Kisch: Rembrandt the Printmaker, Ausst.-Kat. Amsterdam, Rijksmuseum, London, British Museum, Zwolle 2000/01, S. 293.
4 Zu dem Motiv des Unvollendeten in der Radierkunst Rembrandts vgl. Catherine B. Scallen: Rembrandt's Etching Saint Jerome reading in an Italian Landscape. The Question of Finish reconsidered, in: Delineavit et Sculpsit 8, 1992, S. 1-11, S. 4 und S. 6.
5 Vgl. Otto Pächt: Rembrandt, München (1971) 1991, S. 228–229; Röver-Kann, in: Rembrandt, oder nicht? Zeichnungen von Rembrandt und seinem Kreis aus den Hamburger und Bremer Kupferstichkabinetten, bearb. v. Anne Röver-Kann, Anne Buschhoff, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bremen, Ostfildern-Ruit 2000, S. 124 mit Anm. 8.
6 Röver-Kann, in: Rembrandt, oder nicht? Zeichnungen von Rembrandt und seinem Kreis aus den Hamburger und Bremer Kupferstichkabinetten, bearb. v. Anne Röver-Kann, Anne Buschhoff, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bremen, Ostfildern-Ruit 2000, S. 124.
7 Die Radierung trägt folglich den Titel „Der Hl. Hieronymus in einer italienischen Landschaft“. – Clark 1966, S. 117–120 wies auf einen Stich des Cornelis Cort nach Tizian (H. 134; H. 102) und führte auch die Interpretation des Heiligen als eines lesenden Philosophen auf oberitalienische Tradition zurück. Karel G. Boon, Christopher White: Rembrandt’s Etchings: An Illustrated Critical Catalogue, 2 Bde., Amsterdam 1969, S. 221 verwies auf die Campagnola-Stiche Hind 6 und 8. Zu den italienischen Einflüssen vgl. auch Ludwig Münz: Rembrandt's Etchings, Bd. 2, London 1952, S. 112; Schatborn 1983, Nr. 67; Schneider, in: Cynthia P. Schneider: Rembrandt's Landscapes. Drawings and Prints, Ausst.-Kat. National Gallery of Art, Washington 1990, S. 168; Schatborn, in: Ausst.-Kat. Holm Bevers/Sölter 2008, Peter Schatborn, Barbara Welzel: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen, Ausst.-Kat. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Amsterdam, Rijksmuseum, London, National Gallery, München u.a. 1991/92, S. 94; Bevers ebd., S. 254.
8 Bevers, in: Holm Bevers/Sölter 2008, Peter Schatborn, Barbara Welzel: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen, Ausst.-Kat. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Amsterdam, Rijksmuseum, London, National Gallery, München u.a. 1991/92, S. 165 und S. 254, datierte die Radierung um 1653/54; ebenso Catherine B. Scallen: Rembrandt's Etching Saint Jerome reading in an Italian Landscape. The Question of Finish reconsidered, in: Delineavit et Sculpsit 8, 1992, S. 1-11, S. 9, Anm. 1; Schapelhouman, in: Erik Hinterding, Gert Luijten, Martin Royalton-Kisch: Rembrandt the Printmaker, Ausst.-Kat. Amsterdam, Rijksmuseum, London, British Museum, Zwolle 2000/01, S. 293. Im Gegensatz dazu zog Schneider, Cynthia P. Schneider: Rembrandt's Landscapes. Drawings and Prints, Ausst.-Kat. National Gallery of Art, Washington 1990, S. 168 einen geringeren Abstand zwischen Zeichnung und Radierung in Betracht und folgte damit Schatborn in der Datierung der Zeichnung, siehe Anm. 9.
9 Darauf deutet die stilistische Verwandtschaft mit Rembrandts um 1649 anzusetzender Zeichnung „Daniel in der Löwengrube“, Amsterdam, Rijksprentenkabinet, Inv.-Nr. RP-T-1930-17, Benesch 1954–57, Bd. 5, Nr. 887, im Gegensatz zu dem von Benesch vorgeschlagenen späteren Ansatz um 1652/53, der noch aufrechterhalten wurde bei Peter Schatborn: Tekeningen van Rembrandts leerlingen, in: Bulletin van het Rijksmuseum 33, 1985, Nr. 2, 93-109.
10 Cynthia P. Schneider: Rembrandt's Landscapes. Drawings and Prints, Ausst.-Kat. National Gallery of Art, Washington 1990, S. 168; Schatborn, in: Ausst.-Kat. Holm Bevers/Sölter 2008, Peter Schatborn, Barbara Welzel: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen, Ausst.-Kat. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Amsterdam, Rijksmuseum, London, National Gallery, München u.a. 1991/92, S. 94.
11 Vgl. Kat.-Nr. 854; vgl. Volker Manuth: Mit Verlaub, bist du Mennonit, Papist, Arminianer oder Geuse? Kunst und Konfession bei Rembrandt, in: Rembrandt - Genie auf der Suche, Ausst.-Kat. Berlin, Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin, Köln 2006, S. 51-63, S. 58 zu Hieronymus-Darstellungen bei Rembrandt.
12 Inv.-Nr. 22418; vgl. Peter Schatborn: Tekeningen van Rembrandt, zijn onbekende leerlingen en navolgers, Catalogus van de Nederlandse Tekeningen in het Rijksprentenkabinet, Rijksmuseum, Amsterdam, Bd. 4, Amsterdam 1985, S. 56; darüber hinaus scheint sich Rembrandt hier an einem Stich von Willem de Leeuw nach Rubens zu orientieren („Daniel in der Löwengrube“, H. 3, ebd. Abb. 24 c, vgl. das von hinten gesehene Tier ganz links).