Jan Lievens I, (?), Zeichner

Ansicht von London mit der Kathedrale von Westminster, 1632 - 1635?

Die alte Ortsangabe auf der Rückseite des Blattes wurde bestätigt von Martin Royalton-Kisch: Es handelt sich um eine Ansicht der Kathedrale von Westminster, aufgenommen aus nordwestlicher Blickrichtung, etwa vom Standort des heutigen St. James’ Park.(Anm.1) Eine im Motiv eng verwandte „Ansicht der Westminster Kathedrale vom jenseitigen Themseufer“ aus der ehemaligen Sammlung Unicorno befindet sich heute im Besitz des House of Lords in London.(Anm.2) Während Royalton-Kisch 1998 beide Zeichnungen als spätere Nachahmungen des Jan Andrea Lievens (1644–1680) einordnete – ausgehend von topographischen Ungenauigkeiten wie dem nicht der Wirklichkeit entsprechenden Hügel rechts hinter der Abtei (Anm.3) – wird heute zumindest für das Londoner Blatt an der alten Zuschreibung an den Vater, Jan Lievens, festgehalten. Ausgehend von der stilistischen Nähe zu einer Landschaftszeichnung des Anton van Dyck, der sich in dieser Zeit ebenfalls in London aufhielt, wird es als wichtigstes Dokument für den um 1632–35 anzusetzenden London-Aufenthalt des Jan Lievens gewertet.(Anm.4)
Hinsichtlich der Hamburger Zeichnung, die bereits bei Schneider 1932 nur unter Vorbehalt Lievens zugeschrieben wurde, fällt das Urteil zurückhaltender aus.(Anm.5) Doch auch unsere Zeichnung lässt sich mit Van Dyck-Zeichnungen der frühen 1630er Jahre vergleichen, beispielsweise in der stringenten Diagonalschraffur der Baumgruppe rechts.(Anm.6) Zudem verbinden Eigenheiten wie die geschlossenen Laubkürzel und die breite, die Federkonturen ergänzende Tuschlavierung das Hamburger Blatt mit der Londoner Zeichnung. Allein die Wiedergabe der Architektur wirkt hier schematischer und weniger lebendig, wenngleich die qualitativen Unterschiede nicht so stark erscheinen wie bei Rubinstein beschrieben.(Anm.7) Es stellt sich die Frage, ob diese Schwächen nicht auf die ungeübte Hand des jungen Künstlers zurückzuführen wären, zumal die Londoner Westminster-Ansicht zu seinen frühesten Versuchen auf dem Gebiet der Landschaftszeichnung gerechnet wird.(Anm.8)
In jedem Fall sind die Bezüge zu sicheren Landschaftszeichnungen des Jan Lievens ungleich enger als zu den wenigen Zeichnungen seines Sohnes Jan Andrea.(Anm.9) Die deutlich schwungvoller und freier markierte Vegetation und das breiter aufgetragene Lavis verbindet mit einer Gruppe von Jan Lievens zugeschriebenen Landschaftszeichnungen aus der Zeit seines Antwerpen-Aufenthaltes (1635–43).(Anm.10)
Aus diesen Gründen soll das Hamburger Blatt, wenngleich unter Vorbehalt, weiterhin als Werk des Jan Lievens geführt werden. Eine gewisse Bestätigung erfährt diese Einordnung durch die Tatsache, dass es auf englischem Papier gezeichnet und 1854 von Harzen in London erworben wurde, sich also möglicherweise bis zu diesem Zeitpunkt in englischem Besitz befand.

1 Martin Royalton-Kisch in einem Brief vom 11. 2. 1998; in einer Notiz auf dem Photokarton des RKD sah bereits Lugt einen Zusammenhang mit der Londoner Westminster-Ansicht, vgl. Dumas, in: Grenzeloos goed. Tekeningen uit de Unicorno collectie, bearb. v. Ingrid S. Brons, Ausst.-Kat. Den Haag, Haags Historisch Museum, Den Haag 2001, S. 116, Anm. 5.
2 Feder in Braun, graubraun laviert, 218 x 373 mm, Arthur K. Wheelock jr. jr.: Jan Lievens, A Dutch Master Rediscovered, Ausst.-Kat. Washington/Milwaukee/Amsterdam, London 2008, Nr. 101; im Aukt.-Kat. Amsterdam, Unicorno 2004 wurde unser Blatt irrtümlich als Wiederholung der zentralen Partie dieser Ansicht beschrieben.
3 Martin Royalton-Kisch: The Lugt drawings by Rembrandt and his School, in: The Burlington Magazine 140, 1998, S. 618-622, S. 621 und 622; als Beleg gegen eine Ausführung nach der Natur werden auch die fehlenden Giebelkreuze angeführt. – Bei dem Hügel könnte es sich aber auch um eine freie Ergänzung zur Abrundung der Komposition handeln.
4 Zugunsten einer Entstehung in England, gegen die von Royalton-Kisch angeführten Bedenken, der beide Zeichnung mit Werken der 1660er Jahre verglich, argumentiert Rubinstein 2008, S. 72 und in: Arthur K. Wheelock jr. jr.: Jan Lievens, A Dutch Master Rediscovered, Ausst.-Kat. Washington/Milwaukee/Amsterdam, London 2008, S. 239–240 unter Verweis auf Van Dycks in der Tat stilistisch eng verwandte „Ansicht von Rye“, 1633, in New York, The Pierpont Morgan Library, Inv.-Nr. III, 178, Felice Stampfle: Netherlandish Drawings of the Fifteenth and Sixteenth Centuries and Flemish Drawings of Seventeenth and Eighteenth Centuries in the Pierpont Morgan Library, Princeton 1991, Nr. 272.
5 In einer Notiz auf dem Photokarton des RKD brachte bereits J. G. van Gelder das Hamburger Blatt mit Jan Andrea Lievens in Verbindung, vgl. Dumas, in: Grenzeloos goed. Tekeningen uit de Unicorno collectie, bearb. v. Ingrid S. Brons, Ausst.-Kat. Den Haag, Haags Historisch Museum, Den Haag 2001, S. 116, Anm. 7.
6 Um 1634, London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1897,0410.16, Martin Royalton-Kisch: Het Licht van de Natuur. Het landschap in tekening en aquarel door Van Dyck en tijdgenoten, Ausst.-Kat. Antwerpen, Rubenshuis u.a. 1999, Nr. 18.
7 Jan Lievens, A Dutch Master Rediscovered, bearb. v. Arthur K. Wheelock jr., Ausst.-Kat. Washington National Gallery of Art, Milwaukee Art Museum, Amsterdam, Museum het Rembrandthuis, London 2008, S. 240: „a striking stylistic and qualitative difference“.
8 Gregory Rubinstein: The Drawings of Jan Lievens, in: Jan Lievens, A Dutch Master Rediscovered, Ausst.-Kat. Washington/Milwaukee/Amsterdam, London 2008, S. 70-79, S. 72.
9 Die sicher Jan Andrea zuschreibbaren Zeichnungen in London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1836,0811.343 und Inv.-Nr. 1922,0410.3, vgl. Peter Schatborn, Eva Ornstein-van Slooten: Jan Lievens. Prenten en Tekeningen, Ausst.-Kat. Amsterdam, Museum Het Rembrandthuis, Amsterdam 1988, Nr. 63, sind sehr viel sorgfältiger gearbeitet. In seinem kürzlich erschienenen Aufsatz zu den Zeichnungen des Jan Lievens hielt Gregory Rubinstein es grundsätzlich für wahrscheinlicher, dass sämtliche fragliche Landschaftszeichnungen dem Vater zuzuschreiben sind, und erklärte die zu beobachtenden Unterschiede als werk­immanente Qualitätsschwankungen: Gregory Rubinstein: The Drawings of Jan Lievens, in: Jan Lievens, A Dutch Master Rediscovered, Ausst.-Kat. Washington/Milwaukee/Amsterdam, London 2008, S. 70-79, S. 74–75.
10 Vgl. auch für den etwas spröde wirkenden Baumschlag: Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. KdZ 1390, Werner Sumowski: Drawings of the Rembrandt School. Bd. 7, Leupenius - Lievens, hrsg. von Walter L. Strauss, 1983, Nr. 1666 x; Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. C 1436, ebd. Nr. 1667 x; Kopenhagen, Statens Museum for Kunst, Kongelige Kobberstiksamling, Nr. Tu 85,6, ebd. Nr. 1668 x.

Details about this work

Feder und Pinsel in Braun auf ehemals weißem Papier; Einfassungslinien (Feder in Braun) 246mm x 407mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 22122 Collection: KK Zeichnungen, Niederlande, 15.- 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

We are committed to questioning the way we talk about and present art and our collection. Therefore, we welcome your suggestions and comments.

Feedback
Other works by
Jan Lievens I