Hendrick Goltzius

Baumgruppe in einem Wald, um 1600

Mehr als 200 Jahre bevor die Baumstudie vor der Natur ihren festen Platz in der akademischen Lehre erhielt, forderte Karel van Mander 1604 in seinem Schilder-Boeck dazu auf, Baumstudien in Aquarell auf grundiertem Papier nach der Natur zu zeichnen. Seine Freundschaft zu Goltzius sowie die zeitliche Nähe seines Textes legen nahe, dass Goltzius seine Studie in der Natur ausgeführt hat. Farbtupfen in Weiß, Gelb, Grau, Grün und Blau suggerieren meisterhaft das lichte Grün eines jungen Buchenwaldes. Lichtreflexe auf den zarten, ondulierenden Stämmen deuten eine tief stehende Sonne an und verleihen der Studie den Charakter eines unmittelbaren Natureindrucks. Die aufwändige Technik und das Monogramm HG erheben das Blatt über den Status einer flüchtigen Studie. Es entstand womöglich im beliebten Haarlemer Stadtwald. Die lichte, sonnenbeschienene Frische des Waldes verweist jedoch eher auf oberitalienische Vorläufer denn auf die undurchdringliche Wildnis der holländischen Waldlandschaft.

Neela Struck
In gleicher Technik gearbeitete „Baumstudien“ von der Hand des Goltzius befinden sich in Oxford und Paris.(Anm.1) Für die duftig-weiche Ausführung ließ sich der Künstler wohl von vergleichbaren Arbeiten Federico Baroccis (um 1535–1612) inspirieren.(Anm.2) Allerdings scheinen seine Zeichnungen stärker dem unmittelbaren Natureindruck verpflichtet zu sein. 1604, also im unmittelbaren zeitlichen Kontext zu dieser Werkgruppe, forderte der mit Goltzius befreundete Karel van Mander die jungen Maler dazu auf, Bäume in Aquarell auf farbig grundiertem Papier „nae ’t leven“ zu zeichnen, um so die „anmutig bewegen Blätter“ wiederzugeben.(Anm.3) Es ist anzunehmen, dass Goltzius Zeichnungen wie die Hamburger „Baumstudie“ tatsächlich in freier Natur aufgenommen hat,(Anm.4) und dies vermutlich in der unmittelbaren Umgebung seiner Heimatstadt: Im „Haarlemmer Hout“, dem südlich der Stadt gelegenen Wald, der seit dem 15. Jahrhundert ein beliebtes Ausflugsziel der Haarlemer Bürger war und in dieser Eigenschaft auch von zahlreichen Dichtern gepriesen wurde, nicht zuletzt von Karel van Mander.(Anm.5)
1572 von den Spaniern zerstört, wurde das Waldgebiet 1583 von der Stadt erworben und aufgeforstet, unter anderem mit von weither importierten Bäumen.(Anm.6) Die Beliebtheit des Waldes könnte Goltzius’ Interesse an dem Motiv erklären, dass er zur Genüge aus eigener Anschauung kannte – Van Mander berichtet von ausgedehnten Spaziergängen in der Zeit nach seiner Italienreise.(Anm.7) Vielleicht war die feucht-kühle Farbgebung bewusst gewählt, um den Betrachter an der erfrischenden Wirkung dieses „Locus Amoenus“ teilhaben zu lassen. Das Monogramm und die aufwendige Technik charakterisieren das Blatt als selbständiges Kunstwerk.

Annemarie Stefes

1 Oxford, Ashmolean Museum, Inv.-Nr. WA 1962.17.34, E. K. J. Reznicek: Die Zeichnungen von Hendrick Goltzius. Mit einem beschreibenden Katalog. Text, 2 Bde., Utrecht 1961, Nr. 410; Paris, Fondation Custodia, Inv.-Nr. 3084, ebd. Nr. 402, aus ehemaligem Bestand der Hamburger Kunsthalle 1927 von Fritz Lugt im Tausch erworben.
2 E. K. J. Reznicek: Die Zeichnungen von Hendrick Goltzius. Mit einem beschreibenden Katalog. Text, 2 Bde., Utrecht 1961, S. 111 und zuletzt Plomp, in: Huigen Leeflang, Ger Luijten, Lawrence W. Nichols: Hendrick Goltzius (1558-1617). Drawings, Prints and Paintings, Ausst.-Kat. Amsterdam, Rijksmuseum, New York, Metropolitan Museum, Toledo (OH), Toledo Museum of Art, Zwolle 2003, S. 195–196 mit Abb. 71 a und S. 320–321, Anm. 90. Vgl. auch Baroccis Landschaft in der Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. 21056, David Klemm: Italienische Zeichnungen 1450-1800 Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, 3 Bde., Köln u. a. 2009, Nr. 31. Von Barocci beeinflusst waren auch andere Künstler wie z. B. Maarten van Valckenborch, vgl. Marijn Schapelhouman: Tekeningen van Noord- en Zuidnederlandse kunstenaars geboren voor 1600, Amsterdams Historisch Museum, Oude tekeningen in het bezit van de Gemeentemusea van Amsterdam waaronder de collectie Fodor, Bd. 2, Amsterdam 1979, Nr. 76. Darüber hinaus verarbeitete Goltzius möglicherweise auch Anregungen Tizians und Muzianos, vgl. E. K. J. Reznicek: Die Zeichnungen von Hendrick Goltzius. Mit einem beschreibenden Katalog. Text, 2 Bde., Utrecht 1961, S. 111; Karel G. Boon: The Netherlandish and German Drawings of the XVth and XVIth Centuries of the Frits Lugt Collection, 3 Bde., Paris 1992, S. 198.
3 Karel van Mander, Den Grondt der edel vry schilder-const, Haarlem 1604, Kap. 8, 37.
4 Darin unterscheiden sich diese Blätter wohl von niederländischen Vorläufern wie den ebenfalls auf grundiertem Papier gearbeiteten „Baumstudien“ im Errera-Skizzenbuch, Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts, Slg. De Grez, Inv.-Nr. 4060/4630, fols. 16r, 80v, um 1540, vgl. Christopher S. Wood: The Errera Sketchbook and the Landscape Drawing on Grounded Paper, in: Herri met de Bles. Studies and Explorations of the World Landscape Tradition, hrsg. von Norman E. Muller, Betsy J. Rosasco, James H. Marrow, Turnhout 1998, S. 101-116, besonders S. 106.
5 „Het beelt van Haarlem de stadt“, 1596, vgl. E. K. J. Reznicek: Die Zeichnungen von Hendrick Goltzius. Mit einem beschreibenden Katalog. Text, 2 Bde., Utrecht 1961, S. 112; vgl. Stefan Bartilla: Die Welt des Waldes, in: Ausst.-Kat. Hamburg 1999, S. 39-43, S. 39–40 und Walter S. Gibson: Pleasant Places. The rustic landscape from Bruegel to Ruisdael, Berkeley, Los Angeles, London 2000, S. 94–95.
6 Ein derartiges Exemplar ist möglicherweise auf der unter Anm. 1 zitierten Zeichnung in Oxford dargestellt mit dem Titel „Englische Eiche“.
7 Karel van Mander: Das Leben der niederländischen und deutschen Maler (von 1400 bis ca. 1615), übersetzt und hrsg. von Hanns Floerke, München 1905, S. 336.

Details about this work

Feder in Schwarz, Pinsel in Deckfarben (Weiß, Gelb, Grau, Grün und Blau) auf blau grundiertem Papier; Einfassungslinien (Feder in Schwarz) 283mm x 196mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21977 Collection: KK Zeichnungen, Niederlande, 15.- 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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