Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, zugeschrieben, Zeichner

Figurenstudien, um 1503

Die Zeichnung wurde 1854 von Georg Ernst Harzen auf der berühmten Londoner Auktion der Sammlung Woodburn als Raffael erworben. Er hat diese Zuschreibung übernommen und die „Weibliche Figur mit antik drappirtem flatterndem Gewande, nebst anderen flüchtigen Entwürfen“ als „schöne Federzeichnung“ aus der frühen Phase des Künstlers bestimmt.
Im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle folgte man dieser sehr hohen Wertschätzung nicht und gab das Blatt zunächst Bernardino Pintoricchio, dem vor allem in Siena und Rom tätigen Zeitgenossen Raffaels. Im ersten Inventar der Kunsthalle wurde das Blatt dann zu den anonymen Italienern gelegt und damit deutlich abgewertet.
Die seitdem geführte Diskussion spiegelt die anfänglichen Schwierigkeiten der Einordnung wider. So reichen die Bewertungen von einer Kopie nach einer Studie Fra Bartolommeos (Anm.1) oder einer toskanischen Arbeit in der Nachfolge Piero di Cosimos (Anm.2) bis hin zu einer Studie aus dem Umkreis des schon genannten Pintoricchio (Anm.3). Einzig Konrad Oberhuber hat wohl in den 1960er Jahren bei einem Besuch im Kabinett eine Zuschreibung an Raffael für möglich gehalten.(Anm.4)
Erst 1983 jedoch wurde die ursprüngliche Einschätzung des Blattes als Werk Raffaels erstmals wieder mit Nachdruck aufgenommen. Damals verbanden Knab/Mitsch/Oberhuber in ihrem Gesamtkatalog der Zeichnungen Raffaels die Gewandstudie mit dem linken Engel in der 1503 entstandenen „Krönung Mariens“ (heute Vatikan). Demnach stellt die Hamburger Frauenfigur die in Gewandung und Haltung weiterentwickelte Fassung einer in Oxford bewahrten Studie eines Knaben mit Tamburin dar.(Anm.5) Das Hamburger Blatt wurde allerdings – so Knab/Mitsch/Oberhuber – zu einem späteren Zeitpunkt partiell überarbeitet, was womöglich zu der bisherigen Unsicherheit in der Forschung geführt haben mag. Die Verbindung des Blattes zum Œuvre Raffaels hat Achim Gnann auf der Hamburger Tagung im Oktober 2005 bekräftigt. Konrad Oberhuber hielt in Bestätigung seiner früheren Einschätzung eine Autorschaft Raffaels für wahrscheinlich.(Anm.6)
Dagegen meldeten Hugo Chapman (Anm.7), Nicholas Turner (Anm.8) als auch Paul Joannides (Anm.9) mehr oder weniger starke Zweifel an einer Zuschreibung an Raffael an. Für sie ist eine Entstehung allenfalls in der Werkstatt oder im Umkreis des Künstlers denkbar.
Die 2005 im Zuge der Arbeit am Bestandskatalog erstmals seit vielen Jahrzehnten wieder freigelegte Rückseite brachte interessante weitere Skizzen zu Tage. Eine feine Kopfstudie (Metallstift), eine Baumstudie (Feder) und ein leicht karikierter Kopf (Feder) haben aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen stilistischen Erscheinung die Frage der Zuschreibung nochmals erschwert.
Während sich die beiden letztgenannten Studien schwerlich mit Raffael in Verbindung bringen lassen, erinnert die fein gezeichnete Kopfstudie an dessen um 1504 entstandene Allegorie „Der Traum des Ritters“ (London, National Gallery). Einen ähnlich in sich gekehrten Gesichtsausdruck weisen die Figuren des liegenden Scipio bzw. der links stehenden Virtus auf.(Anm.10) Während Gnann (Anm.11) in Kenntnis des Originals hier wiederum unzweifelhaft Raffael selbst tätig sieht, hat Chapman (Anm.12) auch bei dieser Figur Zweifel an dessen Autorschaft geäußert. Ihm scheint der Gesichtsausdruck bei aller Feinheit etwas zu schematisch angelegt.
Recto- und Verso-Zeichnung weisen mit der lebendigen, noch suchenden Federführung einerseits und dem sicher und sorgfältig gesetzten Stift andererseits zwei ganz unterschiedliche Entwurfstechniken auf. Dies ist kein Argument gegen eine Autorschaft Raffaels. Diese unterschiedlichen Modi sind vielmehr typisch für die Art des Künstlers, seine Werke vorzubereiten. Für Raffael spricht auch, dass die beiden Gemälde, mit denen sich die Recto- und Verso-Studien verbinden lassen, fast gleichzeitig entstanden sind. So wäre vorstellbar, dass Raffael das Hamburger Blatt um 1503 in seiner Werkstatt als Skizzenmaterial benutzt hat.

David Klemm

1 Anonyme, undatierte Kartonnotiz.
2 Janos Scholz laut Notiz im Archiv des Kupferstichkabinetts.
3 Briefliche Mitteilung von Francis Russell, 4. 12. 1981.
4 Undatierte Kartonnotiz.
5 Oxford, Ashmolean Museum, Parker 511 a. Eckhart Knab, Erwin Mitsch, Konrad Oberhuber, unter Mitarbeit v. Silvia Ferino-Pagden: Raphael. Die Zeichnungen, Stuttgart 1983, S. 559, Nr. 36.
6 Mündliche Mitteilung auf der Grundlage einer Digitalphotographie, Oktober 2005.
7 Mündliche Mitteilung auf der Grundlage einer Digitalphotographie, 18.1.2005.
8 Anlässlich des Symposiums „Italienische Altmeisterzeichnungen 1450 bis 1800“ am 27. und 28.10.2005 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle.
9 Mitteilung auf der Grundlage einer Digitalphotographie, 7.12.2007.
10 Hugo Chapman, Tom Henry, Carol Plazzotta: Raphael from Urbino to Rom, Ausst.-Kat. London, National Gallery, London 2004, S. 138–143.
11 Anlässlich des Symposiums „Italienische Altmeisterzeichnungen 1450 bis 1800“ am 27. und 28.10.2005 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle.
12 Mündliche Mitteilung auf der Grundlage einer Digitalphotographie, März 2008.

Kunst- und materialtechnologische Untersuchungen:
Die Zeichnung wurde 2020 anlässlich der Ausstellung "Raffael. Wirkung eines Genies" (2021) erstmals grundlegend kunst- und materialtechnologisch untersucht, die Untersuchungsergebnisse wurden im gleichnamigen Ausstellungskatalog vollumfänglich publiziert. Die technischen Angaben in der Datenbank wurden anhand der vorliegenden Resultate wie folgt verändert:
Alt:Feder in Braun über schwarzem Stift
Neu: Feder in Braun über Kohle

Sabine Zorn (20210419)

Details about this work

Feder in Braun über Kohle 131mm x 100mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21586 Collection: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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