Marco Zoppo, eigentlich Marco Antonio di Ruggero, zugeschrieben

Fortuna bläst in die Segel, um 1460

Das fein gezeichnete Blatt mit der Darstellung der Fortuna zählt zu den intensiv diskutierten Werken des Kupferstichkabinetts. Es zeigt die gehörnte Göttin mit einem um den Bauch geführten Strick an das Heck eines Schiffes gefesselt. Mit ihrem rechten Bein kontrolliert sie das Ruder, während sie durch kräftiges Blasen in ein Segel das Gefährt vorantreibt. Zwei Putti sind ihr bei der Lenkung behilflich. Die Zeichnung wurde von Georg Ernst Harzen Marco Zoppo zugeschrieben. Diese Ansicht wurde von Bernard Berenson bezweifelt, der einen Künstler zwischen Ercole Roberti und Antonio Pollaiuolo vermutete. Wolf Stubbe ordnete das Blatt 1957 dem Kunstkreis Ferraras zu und nahm eine Entstehung im späten 15. Jahrhundert an. 1966 hat dann Eberhard Ruhmer erneut nachdrücklich für Zoppo als Zeichner plädiert. Tatsächlich lässt sich das Hamburger Blatt motivisch sehr gut mit anderen Zoppo zugeschriebenen Werken verbinden. Typisch für Zoppo sind die Darstellung des nackten Körpers, die Profilansicht der Fortuna, die verspielten Bewegungen der Kinder und auf dem Verso die Felsen, Berge und Wolken der Landschaftsdarstellung. Besonders gut vergleichbar sind das erste und fünfte Blatt des 26 Zeichnungen umfassenden sogenannten Rosebery Skizzenbuches in London. Dort bläst jeweils ein Putto in einer Gesellschaft von mehreren geflügelten und spielenden Kindern ebenfalls durch ein Horn in ein Segel, wodurch ein durch flaches Wasser rollender Wagen angetrieben wird.(Anm.1)
Alle diese Blätter verbindet die Freude des Künstlers an der Erfindung seltsamer und ungewöhnlicher Szenen, wodurch sie wie „Scherzi di fantasia“ erscheinen.
Das mit großer Sicherheit konturierte und lavierte Blatt kann auch hinsichtlich der Zeichentechnik eng mit Zoppo verbunden werden. Es gehört zu einer relativ kleinen Gruppe von Zeichnungen, von denen beispielhaft das in den Uffizien bewahrte Blatt mit einer „Kreuzigung“ (Recto) und „Die Heiligen Sebastian und Michael und ein Putto“ (Verso) erwähnt sei.(Anm.2) Diese Werke unterscheiden sich aufgrund ihrer sehr sorgfältigen und feinen Ausführung von den meisten Federzeichnungen des Künstlers.(Anm.3) So ist sehr gut nachvollziehbar, dass Ruhmer 1966 die hohe Qualität der Hamburger Zeichnung hervorhob.
Ruhmer wies auch auf die zunächst irritierende Diskrepanz zwischen der Qualität des Recto und derjenigen des Verso hin. Tatsächlich wirkt die Ansicht einer weitläufigen Landschaft im Vergleich zum Recto relativ unbeholfen. Doch hat Ruhmer zugleich betont, dass derartige Blätter mit qualitativ unterschiedlichen Recto- und Verso-Seiten im Werk Zoppos wiederholt nachweisbar sind.(Anm.4)
Ruhmers 1966 vertretene Position blieb in der Folgezeit nicht unumstritten. Zunächst war es Lilian Armstrong, die 1976 das Blatt lediglich dem Werkstattkreis zuordnete. Sie erkannte zwar die oben beschriebene Verbindung zum Londoner Skizzenbuch an, bemängelte jedoch – unverständlicherweise – eine zu zögerliche Linienführung, wodurch die Umrisse der Figuren kraftlos wirken. 1993 korrigierte Ruhmer seine Ansicht von 1966 und äußerte Zweifel an der Autorschaft Zoppos. Die Qualität des Recto bestritt er dabei nicht, sondern schrieb das Blatt allein aufgrund der qualitativ schwächeren Verso-Zeichnung ab.(Anm.5) Er ordnete die Zeichnung nun der Werkstatt Zoppos oder einem Künstler aus dem direkten Umfeld zu. Die von Ruhmer hervorgehobene „faticosa rappresentazione naturalistica“ der Verso-Zeichnung findet sich für ihn auch in der Darstellung des Waldes auf der Londoner Zeichnung mit dem Kavalier im Wald. Analog zu dem Hamburger Blatt muss auch diese Zeichnung in dem ansonsten Zoppo zugeschriebenen Skizzenbuch von einem seiner Mitarbeiter stammen. Byam Shaw hat für diesen Künstler, der auch an den Tarock-Karten mitgearbeitet haben könnte, den Ferrareser Miniaturisten Franco de’Russi vorgeschlagen.
Entgegen der auch von Schaar 1997 vertretenen Zuordnung zur Zoppo-Werkstatt soll die Zeichnung der Fortuna – in Rückgriff auf Harzen und Ruhmers Einschätzung von 1966 – hier wieder Marco Zoppo zugeschrieben werden. Wesentliches Argument dafür ist vor allem die oben hervorgehobene künstlerische Qualität, die mindestens derjenigen der Zoppo sicher zugeschriebenen Londoner Blätter entspricht, sowie die hinreichende motivische Einbindung in das Werk des Künstlers. Die künstlerisch schwächere Verso-Seite könnte – als spätere Zutat – von einem Mitarbeiter der Werkstatt stammen.(Anm.6)
Die ikonographische Deutung der Szene ist schwierig. Arm­strong wies darauf hin, dass das Segel zu den Wappenzeichen der Este in Ferrara gehört; doch warf Schaar zu Recht die Frage auf, auf welcher Ebene heraldischer, emblematischer oder gar spielerischer Bedeutung die dazugehörigen Szenen mit Putti zu begreifen sind. Michael Forster fragte angesichts der Londoner Zeichnungen mit spielenden Putti, ob hier im Quattrocento antike Bräuche neu belebt worden seien.(Anm.7) Bemerkenswert für das Hamburger Blatt ist sein sinnlicher Charakter, ist doch die Fortuna mit langen, lockigen Haaren, entblößten Brüsten und dem demonstrativ hochgezogenen rechten Bein nicht ohne deutliche erotische Reize dargestellt.

David Klemm

1 London, British Museum, Inv.-Nr. 1920-2-14-1, fol. I, V (sogenanntes Rosebery-Album); Lilian Armstrong: The Paintings and Drawings of Marco Zoppo, Phil. Diss., New York, London 1976, S. 417–419.
2 Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. 1123 E.
3 Eberhard Ruhmer: Marco Zoppo, Vicenza 1966, S. 66.
4 Ebd.
5 Eberhard Ruhmer: Marco Zoppo: Il suo valore e la sua influenza, in: Giovannucci Vigi 1993, S. 39-47, S. 44: „La qualità di questo foglio non è da sottovalutare.“.
6 Eine sehr ähnliche Landschaftsdarstellung findet sich als Detail einer phantastievollen Romansicht in der sogenannten Collectio Antiquitatum des Giovanni Marcanova, die nachweisbar zwischen 1457 und 1465 in Padua und Bologna entstanden ist (Modena Biblioteca Estense, alfa L. 5.15). Dieses Blatt wird von Mariani Canova als mögliche Arbeit Zoppos diskutiert. Vergleichbar mit der Hamburger Darstellung sind in technischer Hinsicht die sorgfältige Lavierung und motivisch die etwas unbeholfene Art der Wegedarstellung. Die Verbindung zu Zoppo dürfte über dessen enge Kontakte nach Padua und seinen längeren Aufenthalt in Bologna erklärbar sein. Möglicherweise stellt die Hamburger Verso-Zeichnung eine Detailkopie nach dieser Vorlage oder nach einem anderen nicht mehr erhaltenen Blatt Zoppos dar. Vgl. Giordana Mariani Canova: Marco Zoppo e la Miniatura, in: Giovannucci Vigi 1993, S. 121-135, S. 121ff. sowie Abb. S. 123.
7 Michael Forster: Zur gegenständlichen Deutung zweier Blätter aus dem Londoner „Skizzenbuch“ des Marco Zoppo, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 22, 1969, S. 167-168, S. 167–168. Die Schiffskarren erinnern an die in Quellen überlieferten Frühlingsfeste in Attika, bei denen auf einem Schiff im Hafen von Athen die Ankunft des Dionysos gefeiert und auf einem zum Tempel fahrenden Wagen seiner Vermählung gedacht wurde. Dieser Schiffskarrenzug könnte auf den Londoner Zeichnungen dargestellt sein.

Details about this work

Feder in Braun, braun laviert 289mm x 204mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21507 Collection: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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