Leonardo da Vinci

Hl. Sebastian, 1478 - 1483

Leonardos Studie des Hl. Sebastian, die wohl in seiner ersten Florentiner Zeit entstanden ist, übertrifft die zeitgenössischen Darstellungen des Heiligen an lebhafter Bewegung. Sie verdeutlicht auf anschauliche Weise die suchende Zeichentechnik des Künstlers – hier ging es ihm um das Studium einer komplizierten Körperbewegung. Die genaue Funktion der Zeichnung ist unklar, denkbar wäre sie als Vorstudie für ein privates Andachts- oder Altarbild.


Die Zeichnung wurde von Georg Ernst Harzen als Leonardo erworben und ist seitdem niemals angezweifelt worden. Die Studie des Hl. Sebastian macht Leonardos suchende Zeichentechnik anschaulich.(Anm.1) Zunächst hat er mit dem Bleigriffel einen fast frontalen Kopf skizziert, den er dann mit der Feder mit einem nach rechts gewandten Kopf überzeichnete. Anschließend wurde ein in starker Drehung befindlicher Körper hinzugefügt. Zuletzt hat Leonardo – offensichtlich noch immer nicht zufrieden – nochmals mit der Feder eine weitere Variante des Kopfes, diesmal in der Drehung nach links gezeichnet. Die Bedeutung der Komposition liegt in dem Versuch, „die auf extreme Verschränkung hin angelegte Körperhaltung doch wie in fließender Bewegung darzustellen“.(Anm.2)
Leonardos Zeichnung dürfte um 1478/83 entstanden sein. Hierfür sprechen die schnell und sicher gesetzten Körperkonturen und die mit wenigen Strichen angedeuteten Gesichter. Gut vergleichbar sind die zeitgleichen Studien zur Anbetung der Könige.(Anm.3) Eine Sebastian-Studie in Bayonne zeigt vor allem im Kopftypus Ähnlichkeiten zu der Hamburger Zeichnung.(Anm.4)
Eine genaue Bestimmung der Funktion der Zeichnung ist nicht möglich. Leonardo beschäftigte sich mehrfach mit der Figur des sehr populären Heiligen. 1499 erwähnte er sogar im Codex Atlanticus acht in seinem Besitz befindliche Darstellungen des Hl. Sebastian. Denkbar wäre die Zeichnung als Vorstudie für ein privates Andachtsbild oder ein Altarbild.
Auch wenn diese Komposition möglicherweise niemals als Gemälde realisiert worden ist, hat die Erfindung Leonardos dennoch in seinem Umkreis gewirkt. Müller-Walde wies darauf hin, dass die Haltung des linken Beines auf einem Gemälde des Marco d’Oggiono in Berlin Verwendung gefunden hat.(Anm.5)
Die Linien auf der Rückseite deuten auf den Versuch der Konstruktion eines Fluchtpunktes hin. Die angeschnittene Beschriftung scheint auf Leonardos Untersuchungen zur Anatomie des Auges anzuspielen. Derartige Studien haben Leonardo vor allem um 1490 beschäftigt. Es ist daher durchaus denkbar, dass Recto und Verso zu unterschiedlichen Zeiten bezeichnet bzw. beschriftet worden sind.(Anm.6)

David Klemm

1 Vgl. zum folgenden Carmen Bambach in Leonardo da Vinci Masterdraftsman, hrsg. v. Carmen Bambach, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2003, S. 342–344, Nr. 35.
2 Eckhard Schaar in Italienische Zeichnungen der Renaissance aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, bearb. v. Eckhard Schaar unter Mitarbeit v. David Klemm, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Ostfildern-Ruit 1997, S. 93.
3 Köln, Wallraf-Richartz-Museum – Foundation Corboud, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. Z 2003; Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 2258; vgl. Leonardo da Vinci Masterdraftsman, hrsg. v. Carmen Bambach, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2003, S. 320–328, Nr. 28–29.
4 Bayonne, Musée Bonnat, Inv.-Nr. 1211; vgl. Jacob Bean: Les dessins italiens de la collection Bonnat. Inventaire Générale des dessins des Musées de Province 4, Paris 1960, o. S., Nr. 44.
5 Paul Müller-Walde: Beiträge zur Kenntnis des Leonardo da Vinci IV. Einige Darstellungen des Hl. Sebastian. Erinnerungen an die Pollaiuoli, in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen 19, 1898, S. 250-262, S. 250ff.
6 Carmen Bambach in Leonardo da Vinci Masterdraftsman, hrsg. v. Carmen Bambach, Ausst.-Kat. New York, The Metropolitan Museum of Art, New Haven, London 2003, S. 344.

Details about this work

Feder in Braun über Kohle 173mm x 63mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21489 Collection: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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