Francesco Primaticcio, Umkreis

Äolus läßt die Winde aus der Höhle, nach 1540

Dargestellt ist der griechische Gott Äolus (Αιολος), der König der Winde. Er hielt der Überlieferung nach die vier Winde in den Höhlen von Liparos, nördlich von Sizilien, gefangen und ließ sie auf Geheiß der höheren Götter als leichte Brise, Böen oder Sturm entweichen. Auf der Hamburger Zeichnung deuten die Handbewegungen des Gottes darauf hin, dass er die Tür gerade öffnet. Von Interesse ist, dass nicht nur die vier Hauptwindrichtungen, sondern zwei weitere Winde zu erkennen sind.
Trotz seiner Bedeutung für das Wettergeschehen, für See- und Schifffahrt sind Darstellungen von Äolus sowohl in der Antike als auch in der Neuzeit relativ selten.(Anm.1) Am Bekanntesten ist sein Wirken im Zusammenhang mit der Odyssee, half er doch den griechischen Helden auf der Heimfahrt von Troja mit dem günstigen Westwind Zephyros. Aufgrund dieses inhaltlichen Bezuges wurde das Blatt von Béguin, Guillaume und Roy mit der Odysseus-Galerie im Schloss von Fontainebleau in Verbindung gebracht.
Dieser Zyklus wurde von Francesco Primaticcio in den wesentlichen Zügen entworfen, dann aber nach 1540 weitgehend von jüngeren italienischen Künstlern – z. B. Nicolò dell’Abate – ausgeführt. Die Ausstattungsfolge zählte zu den Hauptwerken der europäischen Renaissance, doch wurde sie bei einem Umbau des Schlosses 1738 zerstört. Seine ehemalige Anordnung konnte jedoch von Béguin, Guillaume und Roy anhand von zahlreichen Zeichnungen und Graphiken in wichtigen Teilen rekonstruiert werden. Das Hamburger Blatt gehörte demnach zu einer Bilderfolge an der Decke des zweiten Kompartiments. In dessen Zentrum befand sich in einem achteckigen Feld Neptun, der einen Sturm entfacht, zusammen mit Venus, Amor und Cupido sowie Vertumnus und Pomona. Diese Gruppe wurde gerahmt von den Darstellungen von Vulkan, Minerva, Merkur sowie Äolus.(Anm.2)
Für diese vier Gottheiten wurden von Béguin, Guillaume und Roy vier Zeichnungen angeführt, wobei sich das Hamburger Blatt stilistisch deutlich von den anderen drei Götterdarstellungen unterscheidet. Sind dort eine klare Konturierung und zarte Lavierung zu erkennen, so wirkt das Hamburger Blatt kleinteiliger und mit Binnenschraffuren stärker ausgearbeitet.(Anm.3) Als frühe Vorzeichnung der Äolus-Szene für das Fresko wurde dagegen eine Primaticcio zugeschriebene Zeichnung in den Uffizien angesehen.(Anm.4) Es handelt sich um eine der sehr raren Studien Primaticcios mit schwarzer Kreide. Hier skizziert der Künstler in schnellen Strichen die auf dem Hamburger Blatt erkennbare Situation, wobei die Dynamik der Winde auf der Uffizien-Zeichnung eindrucksvoller herausgearbeitet worden ist. Eine vor
wenigen Jahren im Privatbesitz aufgetauchte weitere Studie Primaticcios führt die Szene sorgfältiger aus.(Anm.5) Durch die Verwendung von Feder und Lavierung passt dieses Blatt deutlich besser als die Hamburger Zeichnung zu den bisher bekannten drei Entwürfen für die Gottheiten Merkur, Minerva und Vulkan.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welchen Entwurfsprozess das Hamburger Blatt dokumentiert. Béguin hat vorgeschlagen, dass es sich um eine Nachzeichnung nach Primaticcios endgültigem Modello bzw. nach dem Fresko selbst handelt. Diese Einschätzung ist fragwürdig, da sich der Hamburger Entwurf eindeutig nach oben verjüngt und daher eine andere Grundform als die rechteckig angelegten anderen Zeichnungen aufweist. Eine derartige Grundform ist in der gesamten Galerie – in der Rekonstruktion von Béguin, Guillaume und Roy – nicht erkennbar. Daher erscheint es zumindest denkbar, dass die eindeutig von der Galerie d’Ulysse beeinflusste Darstellung für einen anderen Zusammenhang angefertigt wurde.
Unabhängig davon ist es seltsam, dass Primaticcio in einer Odysseus-Galerie Äolus ganz allgemein als Befreier der Winde zeigt und nicht die von Homer überlieferte Begegnung des antiken Helden mit dem Windgott darstellt.
Problematisch ist nicht nur die Klärung der Funktion, sondern auch die Frage der Zuschreibung. Die Zeichnung weist eine vorzügliche Provenienz auf, die bis auf Pierre-Jean Mariette zurückgeht.(Anm.6) Ein Sammler des späten 18. oder frühen 19. Jahrhunderts schätzte das Blatt derart, dass er es in einer sorgfältigen Faksimile-Kopie reproduzierte.(Anm.7) Bei allen Sammlern – einschließlich Harzen – wurde das Blatt als Werk Francesco Primaticcios bewertet. Diese Zuschreibung wurde bislang im Kupferstichkabinett aufrecht erhalten und auch von Carel van Tuyll unterstützt.(Anm.8) Allerdings blieb diese Attribution nicht unwidersprochen. Silvie Béguin zog erstmals 1967 Nicolò dell’Abate als möglichen Urheber in Erwägung. Philip Pouncey hatte bereits bei einem nicht genau datierbaren Besuch in Hamburg (wohl in den 1960er Jahren) vorgeschlagen, dass es sich um eine Kopie nach dell’Abate handeln könne.(Anm.9) Dabei ist zu berücksichtigen, dass Pouncey das Blatt wohl nicht mehr im Originalzustand hat sehen können. Bedauerlicherweise war dieses nämlich bei einer spätestens in den 1960er Jahren vorgenommenen Restaurierung stark beschädigt worden. Wie ein Vergleich mit einer alten Photographie verdeutlicht, gingen dabei vor allem sämtliche ehemals vorhandenen Weißhöhungen verloren.(Anm.10) Der heutige Zustand des Blattes ist daher wenig ansprechend, die Gesamtwirkung flau und kraftlos. Eine Ahnung von der ursprünglichen Qualität vermittelt das bereits erwähnte Faksimile, das in den noch vergleichbaren Konturen recht genau ist. Demnach hat die Zeichnung u. a. mit den zahlreichen fein gesetzten Weißhöhungen wohl einmal große zeichnerische Qualitäten aufgewiesen, die die frühere Zuschreibung an Primaticcio verständlicher machen. Allerdings lassen sich auch für dell’Abate Zeichnungen mit sorgfältigen Weißhöhungen nachweisen. Eine abschließende Bewertung der Urheberschaft des Blattes ist demnach heute unmöglich. Angesichts der oben aufgeführten engen Bezüge zu Primaticcios Entwurf wird es weiterhin unter seinem Namen geführt, wobei eine mögliche Entstehung im direkten Umkreis des Künstlers nicht ausgeschlossen ist.

David Klemm

1 Vgl. Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae, Zürich, München 1986 I, 1, S. 398–399.
2 Zur Rekonstruktion vgl. Sylvie Béguin, Jean Guillaume, Alain Roy: La galerie d’Ulysse à Fontainebleau, Paris 1985, S. 133ff.
3 „Vulkan“ (Los Angeles, The J. Paul Getty Museum, Inv.-Nr. 84.GA.54; „Merkur“ (Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 8529); „Minerva“ (Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 8525; vgl. Sylvie Béguin, Jean Guillaume, Alain Roy: La galerie d’Ulysse à Fontainebleau, Paris 1985, S. 135, Abb. 12, 13, 11). Zur Vulkan-Zeichnung im J. Paul Getty Museum, Los Angeles, vgl. Disegni Europei, bearb. v. George R. Goldner unter Mitarbeit v. Lee Hendrix, Gloria Williams, Malibu, Mailand 1988, S. 94–95.
4 Ausst.-Kat. Paris 2004, S. 302. Vgl. Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. 471 F; Abb. bei Sylvie Béguin, Jean Guillaume, Alain Roy: La galerie d’Ulysse à Fontainebleau, Paris 1985, S. 71. Zur Zuschreibungsdebatte vgl. auch Ausst.-Kat. Paris 2004, S. 301–302. Das Blatt wurde früher Rosso Fiorentino und später Francesco Morandini, genannt il Poppi, zugeschrieben.
5 Primatice. Maître de Fontainebleau, Ausst.-Kat. Paris, Musée du Louvre, Paris 2004, S. 301–302.
6 Vgl. die Skizze von Gabriel de Saint-Aubin im Katalog der Vente Mariette 1775, Abb. bei Sylvie Béguin, Jean Guillaume, Alain Roy: La galerie d’Ulysse à Fontainebleau, Paris 1985, S. 136.
7 Inv.-Nr. 21374 a. Harzen erwarb die Zeichnung samt dem Faksimile, das er William Young Ottley zuschrieb. Auch wenn die hohe Qualität des Druckes für Ottley spricht, lässt sich seine Autorschaft nicht eindeutig belegen, da sich die Graphik nicht in seinen Faksimile-Ausgaben nachweisen lässt.
8 Anlässlich des Symposiums „Italienische Altmeisterzeichnungen 1450 bis 1800“ am 27. und 28.10.2005 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle.
9 Kartonnotiz.
10 Das Blatt wurde damals kaschiert und teilweise retuschiert. Die Weißhöhungen sind weitgehend verschwunden. Hinweis im Archiv des Kupferstichkabinetts. Den Zustand vor der Restaurierung gibt die Photographie Nr. 5308 der Fotokartei des Kupferstichkabinetts wieder.

Details about this work

Feder in Braun, braun laviert, auf bräunlichem Papier, ehemalige Weißhöhungen (durch falsche Restaurierung verloren) 302mm x 214mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21374 Collection: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

We are committed to questioning the way we talk about and present art and our collection. Therefore, we welcome your suggestions and comments.

Feedback
Other works by
Francesco Primaticcio