Francesco di Giorgio Martini

Geburt Christi und Geburt Mariens, um 1488

Die Zeichnung zeigt im linken Bildfeld die Geburt Christi, rechts davon die Geburt Mariens. Letztere Darstellung findet sich im 14. und 15. Jahrhundert als ikonographische Sonderform fast ausschließlich bei Sieneser Malern und geht wohl auf eine Bilderfindung der Brüder Lorenzetti zurück.(Anm.1) Typisch ist die Aufteilung der Szene auf zwei Räume: in einen schmalen Raum zur linken Seite mit Ausblick in einen weiteren Raum oder Garten und rechts in ein größeres Zimmer, in dem Anna im Wochenbett sowie das Marienkind und die Mägde zu sehen sind.
Harzen bestimmte das Blatt als von der Hand des Sienesen Vecchietta; und dies, wie er in der Inventareintragung betont, weil schon Richardson diese Zuschreibung vorgenommen hatte. Erstmals wies Oskar Fischel 1935 darauf hin, dass die Zeichnung dem Stil Francesco di Giorgios nahe stehe.(Anm.2) Diese Beobachtung wurde 1939 von Bernhard Degenhart nachdrücklich bestätigt. Er sah sich in der starken Bewegtheit einzelner Figuren an die Anfang der 1490er Jahre anzusetzende Geburt Christi in S. Domenico in Siena erinnert.(Anm.3) Die flatternde Strichform erkannte Degenhart in einer Zeichnung in den Uffizien (Anm.4) wieder. Auch beobachtete er, dass Maria noch nicht die renaissancehafte Breite wie auf der Tafel von S. Domenico, sondern mehr noch die „quattrocentistische“ Schmalheit eines früheren Altarbildes des Künstlers aufweist (Anm.5); zudem lassen sich die antikisierenden Elemente im Hintergrund auch auf Francescos Bronzereliefs nachweisen. Aufgrund dieser Befunde setzte der Autor eine Entstehung der Zeichnung am Ende der 1480er Jahre an.
Degenharts stilkritische Beobachtungen fanden ihre glänzende Bestätigung, als 1977/78 in der Kirche S. Agostino in Siena zwei monochrome Fresken von Francesco di Giorgio und seiner Werkstatt wiederentdeckt und freigelegt wurden. Sie waren zwischen 1488 und 1491 im Auftrag der Eustachia Bichi entstanden und seit der Mitte des 18. Jahrhunderts übertüncht gewesen.(Anm.6) Das Hamburger Blatt kann im Bildvergleich als eine Vorstudie für diese Fresken eingeordnet werden; übereinstimmend sind die Themen sowie einzelne kompositionelle Elemente (z. B. Anna im Wochenbett, die Mägde mit dem Marienkind, Architekturelemente). Für den Entwurfscharakter der Zeichnung spricht auch die Übereinstimmung der Maßangaben auf der Zeichnung („alto br. 7½ … largo br. 9“, d. h. 454 cm und 540 cm) mit den Größen der ausgeführten Wandmalereien (z. B. Geburt Christi: 449 cm x 530 cm).
Dennoch ist unübersehbar, dass zwischen Zeichnung und Fresko deutliche Unterschiede bestehen.(Anm.7) Prinzipiell sind die Malereien in der Ausführung höher als breit und nicht wie auf dem Entwurf stärker in die Breite entwickelt. Unterschiedlich sind etwa auch die seitenverkehrte Darstellung der Geburt Christi, die großzügigere Raumdisposition und die Haltung Josephs. Deutlich akkurater und perspektivisch exakter ist zudem die gesamte Architektur dargestellt, wobei auffällt, dass der entfernt an das Kolosseum erinnernde Rundbau im Hintergrund der Geburt Christi bei der Ausführung fortgelassen wurde. Aufgrund dieser Beobachtungen ist das Hamburger Blatt als sehr frühe Ideenskizze einzustufen. Denkbar ist, dass sie in einem ersten informativen Gespräch mit dem Auftraggeber entwickelt worden ist.(Anm.8)
Der gesamte zeichnerische Duktus deutet darauf hin, dass die Zeichnung in kurzer Zeit ausgeführt ist. Francesco di Giorgio skizziert ohne jegliche Unterzeichnung mit schnellen Strichen, wobei er auch zahlreiche Reuezüge setzt. Die Federstriche sind zumeist dünnlinig, strichelnd, wodurch vor allem die Figuren leichter und transparent wirken. Dennoch geht von ihnen starke Energie aus.
Die spontane, sehr schnelle Art der Skizzierung zeigt sich auch in den seltsamen Größenverhältnissen der Figuren oder bei den Architekturen, bei denen Francesco den Mut zur schiefen Linie zeigt; auch sind manche Teile der räumlichen Verhältnisse alles andere als logisch nachvollziehbar. Diese Charakteristika sind um so bemerkenswerter, als der Künstler einer der wichtigen Architekten der Zeit gewesen ist. Sie sind einzig daraus zu erkären, dass es Francesco hier um eine erste, bewusst flüchtige Ideensammlung ging.
Weller betonte als erster die Nähe der Zeichnung zu Francesco di Giorgios Bronze-Reliefs, was sich vor allem in der unruhigen Strichführung und der Verwendung von klassischen Architekturelementen ausdrückt.(Anm.9) Die flüchtige Schraffentechnik erzeugt eine atmosphärische Vibration, die der Lebhaftigkeit der Oberflächenbehandlung entspricht. Auf einen Bildhauer deutet auch das reliefhafte Kompositionsprinzip hin. Es zeigt sich auch in der Ausführung der Fresken, die bei weitgehendem Verzicht auf Farbigkeit wie groß dimensionierte Steinreliefs wirken.(Anm.10)

David Klemm

1 Vgl. Peter Anselm Riedl, Max Seidel: Die Kirchen von Siena, Bd. 1, 1, München 1985, S. 76.
2 Briefliche Mitteilung, 8. 4. 1935; Archiv des Kupferstichkabinetts.
3 Vgl. Francesco di Giorgio e il Rinascimento a Siena. 1450-1500, hrsg. v. Luciano Bellosi, Ausst.-Kat. Siena, Chiesa di Sant’Agostino, Mailand 1993, S. 478–481.
4 Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. 131 E.
5 Atlanta, Kress Foundation, vgl. Ralph Toledano: Francesco di Giorgio Martini. Pittore e scultore, Mailand 1987, S. 49, Nr. 10.
6 Vgl. Max Seidel: Die Fresken des Francesco di Giorgio in S. Agostino in Siena, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 23, 1979, S. 2-108; Peter Anselm Riedl, Max Seidel: Die Kirchen von Siena, Bd. 1, 1, München 1985 , S. 71–76. Renaissance Siena. Art for a City, hrsg. von Luke Syson, Ausst.-Kat. London, National Gallery, London 2007, S. 154.
7 Vgl. Renaissance Siena. Art for a City, hrsg. von Luke Syson, Ausst.-Kat. London, National Gallery, London 2007, S. 154.
8 Ebd.
9 Allen Stuart Weller: Francesco di Giorgio 1439-1501, Chicago 1943, S. 182. Vgl. „Geißelung Christi“, Perugia, Galleria Nazionale dell’Umbria, Inv.-Nr. 746; Renaissance Siena. Art for a City, hrsg. von Luke Syson, Ausst.-Kat. London, National Gallery, London 2007, S. 149–152, Nr. 27 und „Kampfszene“, London, Victoria & Albert Museum, Inv.-Nr. 251-1876; Renaissance Siena. Art for a City, hrsg. von Luke Syson, Ausst.-Kat. London, National Gallery, London 2007, S. 190–193, Nr. 44.
10 Renaissance Siena. Art for a City, hrsg. von Luke Syson, Ausst.-Kat. London, National Gallery, London 2007, S. 154.

Details about this work

Feder in Braun 231mm x 328mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21320 Collection: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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