Giovanni Benedetto Castiglione, genannt il Grechetto, Zeichner

Kompositionszeichnung für eine Allegorie auf die menschliche Kultur, um 1652

Giovanni Benedetto Castiglione ist einer der vielseitigsten Zeichner des 17. Jahrhunderts. Berühmt wurde er vor allem durch seine Ölstudien, bei denen er den fast trockenen Pinsel mit einer leicht öligen Farbmischung in Braun verwendete. Diese spezielle Technik ist vielleicht eine Erinnerung an die in Öl gemalten „bozzetti“ von Rubens, die Castiglione in Genua kennengelernt haben dürfte.
Die vorliegende Zeichnung ist ein typisches Beispiel für diese besondere Entwurfspraxis. Sie zeigt als Hauptmotiv einen fast nackten Jüngling in halb liegender Haltung.(Anm.1) Er schaut auf einen im Hintergrund stehenden Putto, der gerade die Figur einer nackten Frau auf eine Leinwand skizziert. Hinter dem Jüngling erhebt sich ein steinerner Sockel, auf dem die Büste einer Frau zu erkennen ist. Zu Füßen des Jünglings befinden sich u. a. ein Köcher mit Pfeilen und ein erlegter Hase, ein Kanonenrohr und eine Kugel. Am rechten unteren Bildrand ist ein Knabe mit einem Korb mit Vögeln erkennbar.
Georg Ernst Harzen erkannte offensichtlich als erster, dass sich einzelne Bildelemente der Komposition auf der Radierung „Der Genius des Castiglione“ wiederfinden. Er bestimmte daher die Zeichnung als großformatige Vorstudie für dieses Hauptwerk des Malerradierers Castiglione.(Anm.2) Diese Einschätzung blieb seitdem offensichtlich unbestritten.
Tatsächlich sind auf der seitenverkehrten Radierung die halb liegende Figur des Jünglings, das Kind mit dem Vogelnest und der Altar mit der Steinbüste ähnlich dargestellt. Unverkennbar sind aber auch zahlreiche Unterschiede. So zeigt die Radierung den nackten Jüngling mit großem Hut und Trompete in der Hand vor einem Altar der Malerei oder Erfindungskraft. Durch Hinzufügen mancher Details ist das Motiv der Vergänglichkeit stärker herausgearbeitet. Die Hamburger Zeichnung kann daher allenfalls als eine Art prima idea für die 1648 datierte Radierung angesehen werden.(Anm.3)
Trotz dieser vermeintlichen Zusammenhänge ist die Bestimmung der Zeichnung als Vorstudie für die Radierung keineswegs eindeutig. Denn offensichtlich stellt der Jüngling einen wichtigen Typus im Formrepertoire des Künstlers dar, den er mehrfach verwendete. Besonders auffallend ist die motivische und zeichentechnische Ähnlichkeit mit einer in den frühen 1550er Jahren entstandenen Entwurfsskizze für die „Allegorie zu Ehren der Herzöge von Mantua“ in Budapest (Anm.4).
Zweifel an der bislang vertretenen Bewertung der Zeichnung muss auch die Zeichentechnik hervorrufen, die in ihrer Tendenz zur abstrakten Darstellung als Vorbereitung für eine kleinteilige Radierung höchst ungewöhnlich ist. Vielmehr spricht die für Castiglione nachweisbare Entwurfspraxis dafür, dass es sich bei der Hamburger Zeichnung eher um die Vorstudie für ein Gemälde handelt.
Die einzelnen Bildmotive sind dabei weniger konkret auf Castiglione selbst als vielmehr auf eine ganz allgemeine Würdigung menschlicher Kultur zu beziehen.
In diesem Sinne stehen die Staffelei mit Bild für die Malerei, das Manuskript in der Hand des Jünglings für die Dichtkunst, die Büste für die Skulptur, das an den Sockel gelehnte Instrument für die Musik und die Kugel oder Sphäre im Vordergrund für die Astronomie (bzw. Astrologie). Der Köcher und der tote Hase spielen auf die Jagdkultur an. Die Vögel im Korb stehen allgemein für die Fruchtbarkeit des menschlichen Geistes. Unverzichtbar ist für eine solche Allegorie auch das Kriegshandwerk – hier symbolisiert durch die Kanone –, ohne dessen Schutz überhaupt keine Kultur denkbar ist.
Das Lobpreis der menschlichen Kultur und die starken zeichentechnischen Übereinstimmungen verknüpfen die vorliegende Zeichnung weniger mit Castigliones Radierung als vielmehr mit dessen Studien für die in den frühen 1650er Jahren entstandenen Gemälde zur Verherrlichung der Herzöge von Mantua.(Anm.5) Die Hamburger Zeichnung ist demnach nicht – wie bislang angenommen – die Vorstudie für die Radierung „Der Genius des Castiglione“, sondern vielmehr durch diese motivisch beeinflusst worden.

David Klemm

1 Während der leicht vorgewölbte Bauch und die leicht gelockten Haare eine Frau vermuten lassen, deuten die muskulösen Arme und Beine doch eher auf einen Mann hin.
2 The Illustrated Bartsch 46 (21), 23 (22).
3 Von Dürer bis Goya. 100 Meisterzeichnungen aus dem Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle, bearb. v. Petra Roettig, Annemarie Stefes, Andreas Stolzenburg, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2001, S. 56 (Beitrag Andreas Stolzenburg). Eine Studie des Kopfes des Genius’ in Windsor Castle, Royal Library, Inv.-Nr. 3947, und eine Studie der Büste auf dem Steinsockel in Venedig, Gallerie dell’Accademia di Venezia, Inv.-Nr. 413, können im Gegensatz zur Hamburger Zeichnung konkret als Vorzeichnungen für die Radierung angesehen werden.
4 Budapest, Szépművészeti Múzeum, Inv.-Nr. 2296; vgl. L’Eredità Esterházy. Disegni italiani del Seicento dal Museo di Belle Arti di Budapest, bearb. v. Andrea Czére, Ausst.-Kat. Rom, Palazzo di Fontana di Trevi, Budapest 2002 , S. 196–199; sehr ähnlich ist dort auch der im Vordergrund platzierte tote Hase dargestellt.
5 Vgl. Il Genio di Giovanni Benedetto Castiglione. Il Grechetto, Ausst.-Kat. Genua, Accademia Ligustica di Belle Arti, Genua 1990, S. 140–142, Nr. 25 und S. 148–152, Nr. 31. Zur Problematik der Deutung der Allegorie vgl. Il Genio di Giovanni Benedetto Castiglione. Il Grechetto, Ausst.-Kat. Genua, Accademia Ligustica di Belle Arti, Genua 1990, S. 140–142, Nr. 25 und S. 148–152, Nr. 31 sowie Giovanni Benedetto Castiglione. Master Draughtsman of the italian Baroque, bearb. v. Ann Percy, Ausst.-Kat. Philadelphia Museum of Art, Philadelphia 1971, S. 99, Nr. 73.

Details about this work

Mit dem Pinsel verriebener Rötel, Pinsel in brauner Tusche, Pinsel in blauer, weißer und schwarzer Ölfarbe auf mit Öl durchtränktem Papier; aufgezogen und im oberen rechten Bereich farblich angeglichen 475mm x 360mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21152 Collection: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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