Remigio Cantagallina

Der Mönch Giovanni della Verna betet in La Verna, 1615

Wie der nur teilweise lesbaren Beschriftung zu entnehmen ist, zeigt das Blatt das in großer Einsamkeit gelegene Heiligtum von La Verna (Monte della Vernia). An diesem Ort in den Apenninen erhielt der Hl. Franz von Assisi im September 1224 die Stigmata. Bei dem im Vordergrund betenden Mönch handelt es sich jedoch nicht um den Ordensgründer, sondern um den Franziskanermönch Giovanni, genannt Giovanni della Verna (1259–1322). Dieser war 1292 in die Einsamkeit von La Verna gezogen, um dort spirituelle Erneuerung zu erfahren. Er lebte lange Zeit in einer einfachen Hütte, verfasste geistliche Schriften und suchte sein Kloster nur noch zum gelegentlichen gemeinsamen Gotteslob mit seinen Mitbrüdern auf. Hier ist der Mönch im einsamen Gebet in unmittelbarer Nähe seiner im tiefen Wald gelegenen schlichten Unterkunft dargestellt.
Die malerisch und effektvoll angelegte Zeichnung wurde bereits von Harzen dem Florentiner Remigio Cantagallina zugeschrieben. Diese Attribution irritiert zunächst, da die Mehrzahl der bekannten Blätter dieses Künstlers reine Federzeichnungen oder nur schwach lavierte Blätter darstellen. Dennoch finden sich in seinem Œuvre auch eine Reihe von Zeichnungen mit starker Lavierung. Sehr gut vergleichbar ist die „Ansicht eines Flusses mit Brücke und Bäumen“ mit der nahezu identischen flächigen, dunklen Lavierung des Laubes.(Anm.1) Sowohl thematisch als auch in technischer Hinsicht ähnelt dem Blatt eine Zeichnung in der ehemaligen Sammlung Scholz.(Anm.2) Sie zeigt, wie der Heilige Franz in einer weiten waldreichen Landschaft die Stigmata empfängt. Auch dieses Blatt weist eine Beschriftung auf, die nicht nur auf La Verna, sondern auch auf eine Entstehung 1615 hinweist. Denkbar ist, dass der Künstler beide Ansichten in einem relativ kurzen Zeitraum auf einer Reise skizziert hat. Die Tendenz zu einer stärkeren Licht-Schatten-Kontrastierung lässt sich nach Cantagallinas Flandernreise im Jahr 1612 häufiger beobachten und würde daher sehr gut zu den auf den Blättern vermerkten Daten passen.
Nicholas Turner und Chris Fischer äußerten 2005 die Auffassung, dass es sich bei dem Hamburger Blatt um ein Werk Jacopo Ligozzis handeln könnte.(Anm.3) Dieser hat 1612 für Domenico Falcinis Buch „Descrizione del Sacro Monte della Vernia“ eine Reihe von thematisch ähnlichen Entwürfen für 25 Stiche und Radierungen angefertigt.(Anm.4) Die bislang publizierten Zeichnungen unterscheiden sich jedoch vom Hamburger Blatt durch das Hochformat und die deutlich feinere Federtechnik. Auch spricht das am oberen Blattrand vermerkte Datum 1615 gegen die Zugehörigkeit zur bereits 1612 abgeschlossenen Ligozzi-Serie.
Das fast gleichzeitige Auftreten zweier Projekte mit La-Verna-Darstellungen lässt darauf schließen, dass der Kult um diesen Ort um 1600 besonders ausgeprägt gewesen sein muss.

David Klemm

1 Aukt.-Kat. London, Sotheby’s, Old Master Drawings 15. 6. 1983, S. 9, Nr. 18, Abb. S. 56.
2 Renato Roli: I Disegni Italiani del Seicento. scuole emiliana, toscana, romana, marchegiana e umbra. Il Disegno Italiano, Treviso 1969, S. 75.
3 Anlässlich des Symposiums „Italienische Altmeisterzeichnungen 1450 bis 1800“ am 27. und 28. 10. 2005 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle.
4 Vgl. die Anmerkungen von Nicholas Turner in Nicholas Turner, in: European Drawings 4. Catalogue of the Collections. The J. Paul Getty Museum Los Angeles, Los Angeles 2001, S. 62–64; Lucilla Conigliello: Le Vedute del Sacro Monte della Verna. Jacopo Ligozzi pellegrino nei luoghi di Francesco, Florenz 1999. Die von Ligozzi gewählte Darstellung der Zelle des Giovanni entspricht in ihrer Schlichtheit weitgehend derjenigen auf Cantagallinas Zeichnung. Vgl. Lucilla Conigliello: Le Vedute del Sacro Monte della Verna. Jacopo Ligozzi pellegrino nei luoghi di Francesco, Florenz 1999, Tav. XX.

Details about this work

Feder in Braun, braun laviert, Spuren von Graphit; Einfassungslinie (Feder in Braun) 246mm x 368mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21125 Collection: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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