Pierre-Henri de Valenciennes

Byblis verwandelt in eine Quelle, 1790

Pierre-Henri de Valenciennes gehört zu den einflussreichsten französischen Landschaftsmalern der Zeit um 1800. Valenciennes erhielt seine Ausbildung an der Académie Royale in Toulouse und reiste bereits mit 19 Jahren 1769 erstmals nach Italien. 1771 ließ er sich in Paris nieder, wo er ab 1773 im Atelier des Historienmalers Gabriel François Doyen arbeitete. 1777 bis 1784/85 folgte ein erneuter Aufenthalt in Rom. 1781 trat er in Kontakt mit Claude-Joseph Vernet (1714-1789) (Anm. 1), der ihn ermutigte plein air zu malen. Fortan fertigte Valenciennes zum Teil sehr freie Ölstudien auf Papier an, die ihn zu einem Pionier der Freilichtmalerei werden ließen. Diese Ölstudien dienten ihm im Atelier als Grundlage für seine Historiendarstellungen, die er meist in idealisierte Landschaften einband. Nach seiner Rückkehr nach Paris wurde er 1787 Mitglied der Académie Royale und lehrte 1796 bis 1800 Perspektive an der Ecole des Beaux-Arts. Sein kunsttheoretisches Werk Eléments de perspective pratique à l`usage des artistes, suivis de réflexions et conseils à un élève sur la peinture et particulièrement sur le genre du paysage aus dem Jahr 1800, das kurz darauf auch auf Deutsch erschien, wurde zur Grundlage für die Entwicklung der modernen Landschaftsmalerei. Auf sein Betreiben hin, richtete die Pariser Akademie 1817 erstmals einen Prix de Rome de paysage historique ein, den Achille Michallon erhielt.
Die vorliegende Zeichnung mit der Geschichte der Byblis entstand 1790, also etwa fünf Jahre nach der Rückkehr nach Paris. Die Landschaft beruht auf aus Italien mitgebrachten Studien. (Anm. 2) Die sehr fein ausgeführte hat ein in den Maßen und der Technik gleiches Pendant, die einen Narziss, sich im Spiegel des Wassers betrachtend, zeigt. (Anm. 3) Beide Kompositionen hängen mit zwei Gemälden derselben Themen zusammen, die 1792 vollendet und 1793 im Pariser Salon präsentiert wurden (Anm. 4) und sich beide im Musée des Beaux-Arts in Quimper befinden. (Anm. 5) Die Figur der Byblis ist genau ins Gemälde übernommen, die Landschaft zeigt in Details Abweichungen.
Die Geschichte der Byblis entstammt Ovids Metamorphosen (Buch 9, Vers 649-666). Sie war eine junge Frau, die sich unsterblich in ihren Bruder Kaunos verliebt hatte, der sie aber barsch abwies und das Land verließ. Sie verfolgte ihn eine Zeit lang, bis sie in einem Wald erschöpft zusammenbrach und den Boden mit ihren Tränen benetzte. Die Najaden ließen aus den Tränen eine Quelle entspringen, die noch heute den Namen Byblis trägt. In dieser Quelle zerfloss die Unglückliche schließlich in ihren Tränen. Valenciennes zeigt genau diesen Zeitpunkt der Geschichte, als Byblis auf einem Felsen unter einer großen Eiche zu Tränen zerfließt und das Wasser der Quelle sich in die Landschaft ergießt. Das Wasser schafft neues Leben, wie die frischen Triebe an dem Baumstumpf auf der rechten Seite bezeugen.
Valenciennes Zeichnung, einer wenigen bildmäßig ausgeführten des Künstlers, die sich erhalten hat, zeigt eine Ideallandschaft im Stil Claude Lorrains, Gaspar Dugets oder Nicolas Poussins, mit der er den Weg zu einer Rückbesinnung auf diese alte Tradition ebnete. Zusammen mit seinen modernen Ölstudien wurde et so zum Vorbild für kommende Künstlergenerationen, zu denen u. a. der deutsche Maler Johann Christian Reinhart gehörte. (Anm. 6)

Andreas Stolzenburg

1 Vgl. die 2014 neuerworbene große Zeichnung Claude-Joseph Vernets mit einer Ansicht des Posillipo-Hügels bei Neapel; Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 2014-21. - Zu Leben und Werk Valenciennes` vgl. auch Simone Schultze: Pierre-Henri de Valenciennes und seine Schule. "Paysage historique" und der Wandel in der Natuarauffassung am Anfang des 19. Jahrhunderts, Europäische Hióchschulschriften, Reihe XXVIII, Kunstgeschichte, Bd. 264, Frankfurt am Main, Berlin, Bern u.a.w. 1996.
2 Landschaft mit Baumstudie, 1777/80, Bleistift, Toulouse, Musée Paul-Dupuy, Inv.-Nr. 664630; Ausst.-Kat. Toulouse 2003, S. X, Nr. 61. Studie eines Baumstumpfes, 1780, Bleistift, teils gewischt, mit Weiß gehöht, Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. RF 12976; Ausst.-Kat. Toulouse 2003, S. X, Nr. 69.
3 1790, Bleistift, schwarze Kreide, weiß gehöht, auf braunem Papier, 390 x 525 mm, Privatbesitz, USA. Beide Zeichnungen befanden sich bis vor wenigen Jahren noch gemeinsam in der Sammlung von Dr. Paul Erni in Basel. Zum Narziss gibt es eine weitere, wohl 1791/92 entstandene Zeichnung; Austs.-Kat. Toulouse 2003, S. 239, Nr. 118.
4 Salon, Paris 1793, Nr. 521 und 331.
5 Byblis in eine Quelle verwandelt und Narziss betrachtet sein Spiegelbild im Wasser, 1792, Öl auf Leinwand, je 54 x 79 cm, Inv.-Nr. 873-1-439; Ausst.-Kat. Toulouse 2003, S. 238, Nr. 116 und 117.
6 Herbert W. Rott: Erdichtete Landschaften. Joahnn Christian Reinhart als Maler, in: Johann Christian Reinhart. Ein deutscher Landschaftmaler in Rom, hrsg. v. Herbert W. Rott und Andreas Stolzenburg, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek, München 2012, S. 49-62.

Details about this work

Bleistift, schwarze Kreide, teilweise gewischt, mit weißer Kreide gehöht, auf graubraunem Papier 390mm x 524mm (Blatt) 54.5cm x 68cm (Rahmen) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett. Erworben 2017 mit Mitteln der Campe`schen Historischen Kunststiftung Inv. Nr.: 2017-1 Collection: KK Zeichnungen, Frankreich, 15.-18. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

We are committed to questioning the way we talk about and present art and our collection. Therefore, we welcome your suggestions and comments.

Feedback