Paolo Veronese, eigentlich Caliari

Studien für Allegorien; Studie für eine Kartusche, um 1550

Das Blatt zeigt rechts oben und in der Mitte zwei Studien schwebender Frauengestalten. Links und rechts unterhalb davon befinden sich zwei sitzende Frauen. Sie haben jeweils einen Arm erhoben, mit dem anderen halten sie eine Art Palmwedel. Diese Geste könnte sie als Allegorien des Friedens klassifizieren. Das leere Feld der oben links erkennbaren Kartusche könnte für ein Wappen oder eine Imprese vorgesehen gewesen sein.
Dieses lebendige Studienblatt ist erstmals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Sammlung Grahl in Dresden nachweisbar. Es wurde auf der Nachlassauktion des Malers als Werk Paolo Veroneses versteigert, doch als Gustav Pauli das Blatt 1922 für die Kunsthalle erwarb, galt es lediglich als Werk eines unbekannten venezianischen Meisters. In den 1960er Jahren wurde dank der Kennerschaft Philip Pounceys und der darauf folgenden Zustimmung von Keith Andrews der Blick wieder auf Veronese gelenkt.(Anm.1) Doch erst 1973 publizierte Richard Cocke das Blatt mit dieser Zuschreibung. Cocke sah in den Figurenstudien Vorzeichnungen für ein Deckengemälde Veroneses in der von Michele Sanmichele in den frühen 1540er Jahren erbauten Villa Soranza bei Castelfranco (Veneto). Dieses Fresko wurde im 19. Jahrhundert vor der Zerstörung der Villa abgenommen und hat sich teilweise erhalten. Cocke bezog das Hamburger Blatt konkret auf ein Fragment im Dom von Castelfranco, auf dem Allegorien der Zeit und des Ruhmes zu sehen sind.(Anm.2) Ein Vergleich zeigt, dass Veronese nicht die optisch wirkungsvoller in der Bildmitte platzierte Frau, sondern die rechts oberhalb davon befindliche Figur weiterentwickelt hat. Sie erhielt in der endgültigen Ausführung nochmals eine veränderte Beinstellung. Zudem sind ihre Flügel auf dem Deckenbild mächtiger ausgefallen. Die beiden sitzenden Frauengestalten sind bildlich nicht überliefert. Dass sie möglicherweise ausgeführt worden sind, lässt sich – was bislang unbeobachtet blieb – aufgrund von Griffelungen an beiden Figuren vermuten. Zudem finden sich 1818 und 1825 in frühen Beschreibungen der abgenommenen Fragmente Hinweise auf eine Freskolünette mit einem von zwei Frauen gehaltenen Wappen.(Anm.3) Dieses Wappen könnte von der oben links erkennbaren Kartusche umschlossen gewesen sein. Cocke nahm an, dass es sich bei der zentralen Frauenfigur um eine Fama handeln könnte, die – als Verkünderin des Ruhms – ihre Trompete auf die womöglich mit einem Wappen ausgefüllte Kartusche ausgerichtet haben könnte.(Anm.4) Dabei konnte es sich nur um dasjenige von Benedetto Soranzo handeln, der den Besitz nach Alvise Soranzos Tod 1548 übernommen hatte. Von Interesse ist die unterschiedliche Gestaltung der beiden Hälften der Kartusche mit einer Herme links und einer halbnackten Figur rechts. Hier zeigt sich – worauf Cocke hinwies – erstmals ein Einfluss der Schule von Fontainebleau auf Veroneses Werk.(Anm.5) Rearick beobachtete, dass sich auf dem durch einen Karton verdeckten Verso Architekturskizzen befinden, wobei unklar ist, ob sie in einem engeren Zusammenhang mit der Ausstattung von Soranza stehen.(Anm.6)
Die Zuschreibung der Hamburger Zeichnung an Paolo Veronese ist aufgrund der engen motivischen Verknüpfung zur Villa Soranza überzeugend. Sie blieb seit Cockes Publikation – abgesehen von einem nicht näher begründeten Zweifel von Coutts – unstrittig. Diese Zweifel mögen auf eine Nähe der frühen Zeichnungen Veroneses zu Blättern Giovanni Battista Zelottis zurückzuführen sein.(Anm.7) Dieser hatte zudem mit Veronese gleichzeitig die Villa Soranza ausgestaltet. Die Autorschaft Veroneses ist aber schon deshalb zwingend, weil das Fragment im Dom von Castelvecchio stets und ohne Zweifel als Frühwerk des Künstlers eingeschätzt worden ist.
Das Blatt ist eine der frühesten nachweisbaren Zeichnungen Veroneses. Es weist in der Verwendung von Feder und Tinte eine Technik auf, die der Künstler sehr selten zum Zeichnen nach Modellen benutzt hat. Die sichere umrissbetonte Auffassung der Figuren lässt den Einfluss von Giulio Romanos lavierten Federzeichnungen erkennen.(Anm.8)
Das Blatt war ehemals zweifach gefaltet. Vielleicht handelte es sich ursprünglich um die Seite eines Briefes, die Veronese häufig für seine Federskizzen weiterverwendete.(Anm.9) Die Hamburger Zeichnung ist fraglos weniger elegant gezeichnet als das etwas früher anzusetzende Blatt aus Chatsworth.(Anm.10) Die besondere Qualität und Bedeutung der Zeichnung rührt jedoch von der Schnelligkeit der Erfindungskraft Veroneses her, die hier wohl erstmals dokumentiert ist. Unmittelbarkeit und Variatonsreichtum der Formen weisen bereits auf jene virtuosen vielfigurigen Studienblätter voraus, die charakteristisch für den Zeichner Veronese sind.

David Klemm

1 Kartonnotizen.
2 Richard Cocke: Veronese`s Drawings. A Catalogue Raisonné, Oxford 1984, S. 41, Abb. 2.
3 Ebd., S. 41.
4 Ebd.
5 Ebd.
6 Paolo Veronese. Disegni e Dipinti, bearb. v. Alessandro Bettagno, Grafica veneta, Bd. 5, Ausst.-Kat. Venedig, Fondazione Giorgio Cini, Vicenza 1988, S. 50 (Beitrag W. R. Rearick).
7 Vgl. zu dem Problem Veronese-Zelotti auch Richard Cocke: Veronese`s Drawings. A Catalogue Raisonné, Oxford 1984, S. 42.
8 Richard Cocke: Veronese`s Drawings. A Catalogue Raisonné, Oxford 1984, S. 41.
9 Paolo Veronese. Disegni e Dipinti, bearb. v. Alessandro Bettagno, Grafica veneta, Bd. 5, Ausst.-Kat. Venedig, Fondazione Giorgio Cini, Vicenza 1988, S. 50 (Beitrag W. R. Rearick).
10 Chatsworth, Devonshire Collection, Inv.-Nr. 937; vgl. Paolo Veronese. Disegni e Dipinti, bearb. v. Alessandro Bettagno, Grafica veneta, Bd. 5, Ausst.-Kat. Venedig, Fondazione Giorgio Cini, Vicenza 1988, S. 49–50 (Beitrag W. R. Rearick).

Details about this work

Feder in Braun, braun laviert; montiert und mit Rahmen in Schwarz und Gold versehen, auf blauem Papier aufgezogen 256mm x 310mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 1922-175 Collection: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

We are committed to questioning the way we talk about and present art and our collection. Therefore, we welcome your suggestions and comments.

Feedback