Gottfried Rist, Stecher
nach Gustav Heinrich Naeke, Zeichner
Johann Conrad Hinrichs (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung), Verleger

Raffael und Polidoro da Caravaggio / "POLYDOR VON CARAVAGGIO", 1817

In: "Penelope. Taschenbuch fuer das Jahr 1818 [...]", herausgegeben von Theodor Hell, Leipzig 1817, Tafel 4

Im Taschenbuch Penelope für das Jahr 1818, das wie fast alle Taschenbücher der Zeit jeweils gegen Ende des vorherigen Jahres – hier also November oder Dezember 1817 – erschien, veröffentlichte der sächsische Schriftsteller Theodor Hell, der eigentlich Carl Gottfried Theodor Winkler hieß, seine im Charakter einer Renaissance-Novelle verfasste Erzählung Polydor von Caravaggio. Sie erzählt die weitgehend fiktive Lebensgeschichte des wandernden Malers Polidoro da Caravaggio – er stammte aus dem Ort Caravaggio und wirkte in Rom, Neapel und auf Sizilien, wo er 1543 in Messina verstarb – der von Giorgio Vasari in seinen Viten erwähnt wird. Polidoro soll als Maurergehilfe am Bau der Loggien beteiligt gewesen sein, eine direkte Schülerschaft bei Raffael ist aber unwahrscheinlich. Er wird eher bei Giulio Romano in der Werkstatt begonnen haben und ist vor allem durch seine Sgraffito-Malerei an den Fassaden römischer Paläste bekannt. Einige von Polidoros Figurenzeichnungen reproduzierte Hendrick Goltzius nach seinem römischen Aufenthalt. (Anm. 1)
Hell konstruiert aus den wenigen biographischen Angaben bei Vasari eine komplizierte Lebens- und Liebesgeschichte. (Anm. 2) Polidoro ist stets auf der Suche nach seiner Jugendliebe Klara und er erlebt die Grausamkeiten des Sacco di Roma von 1527. Bei Hell arbeitet Polidoro als Maurergehilfe an St. Peter, besucht Raffaels Fresken in den Stanzen, was in ihm den Wunsch weckt, den „freundlichen[n], sanfte[n] Jüngling“ kennen zu lernen und sein Schüler zu werden. (Anm. 3)
Gustav Heinrich Naeke entwarf ein Jahr vor seiner Abreise nach Rom, wo er im Kreis der Nazarener um Friedrich Overbeck als religiöser Historienmaler tätig werden sollte, eine Illustration zu Hells Erzählung, die von Gottfried Rist gestochen wurde. Eine Feder- und Bleistiftstudie zur voll ausgeführten Vorzeichnung für den Stecher Rist befindet sich in der Kunstsammlung der Universität Göttingen. (Anm. 4) Auf der Studie wie auf dem Kupferstich des Taschenbuchs steht der junge Polidoro neben dem vor dem Fresko der Schule von Athen sitzenden und an der Wandmalerei arbeitenden Raffael – seine Züge sind dem Florentiner Selbstbildnis (Inv-Nr. 20490) entlehnt – und reicht ihm den Intonaco, den feinen Putz an, der jeweils unmittelbar vor dem Auftragen der Farben auf die Wand gebracht werden muss. Im Gespräch erkennt Raffael, der sich als Meister liebevoll und „engelsgleich“ (Anm. 5) seinem ihn verehrenden Schüler zuwendet, das künstlerische Talent Polidoros, der auf die Geste des Meisters mit Erstaunen reagiert: „Wenn nun der theure Meister an seinem Werke mit voller Seele arbeitete, und er jedem Bedürfnisse lauschend, das etwa diesem nöthig seyn könnte zu seinem Werke, und so da stand ein froh bereiter Diener mit dem Fäßlein, in welchem der nasse Kalk sich befand, da fügte sichs wohl auch, daß Raphael einmal nach ihm umblickte im Wohlgefallen an dem Gelingen, wo man gern in ein andres Auge blickt, und ihn gleichsam Theil nehmen ließ an dem Urtheile, das er selbst fällte in seinem Sinne, da wäre Polydoro gerne niedergekniet und hätte dem guten Gott gedankt, daß er ihn gewürdigt habe einer innern Glückseligkeit, deren der arme Knabe Theil zu werden wohl nie hätte glauben können.“ (Anm. 6)
Wie Michael Thimann richtig bemerkte, wählte Naeke nicht zufällig die Schule von Athen als Hintergrund für die in Szene gesetzte menschlich anrührende Verehrungsszene zwischen Meister und Schüler, da hier die bekannte Szene um Euklid mit seinen konzentriert und andächtig lauschenden Schülern zu sehen ist. (Anm. 7)

Andreas Stolzenburg

1 Ausst.-Kat. Hamburg 2002, S. 120–125, Nr. 36.1–36.11 (Beitrag Andreas Stolzenburg).
2 Ausst.-Kat. Göttingen/Rom 2015, S. 166, bei Nr. 51 (Beitrag Michael Thimann).
3 Hell 1818, S. 76.
4 Raffael und Polidoro da Caravaggio, 1817, Federin Grau über Bleistift, 101 x 78 mm, Göttingen, Kunstsammlung der Universität Göttingen, Inv.-Nr. H 1997/19; Ausst.-Kat. Göttingen/Rom 2015, S. 166, Nr. 51. Die von Michael Thimann hier vorgeschlagene Datierung des Blattes auf 1817 (als spätestes Datum) ist sicher richtig, da wie oben erwähnt der Stich von Rist bereits in diesem Jahr vollendet gewesen sein muss. Zu Naekes Tätigkeit als Illustrator siehe Neidhardt/Suhr/ Seeliger 2009.
5 Hell 1818, S. 75.
6 Ebd., S. 78.
7 Ausst.-Kat. Göttingen/Rom 2015, S. 166, Nr. 51 (Beitrag Michael Thimann).

Details zu diesem Werk

Kupferstich, Radierung (?) 101mm x 72mm (Bild) 116mm x 88mm (Platte) 123mm x 89mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Bibliothek, Erworben 2020 vom Antiquariat Thomas M. Nonnenmacher, Freiburg im Breisgau, mit Mitteln des Fördervereins „Die Meisterzeichnung. Freunde des Hamburger Kupferstichkabinetts e.V.“ Inv. Nr.: kb-2020-82g-4 Sammlung: KK Druckgraphik, Deutschland, 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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