Heinrich Schmidt, Stecher
nach Johann Heinrich Ramberg, Zeichner
G. J. Göschen, Verleger

Raffael zeichnet die "Madonna della Sedia" auf ein Fass, 1819 (gedruckt 1821?)

In: "BUCH FUER KINDER GEBILDETER STAENDE [...]", Band 1, Leipzig 1821 (zweite Auflage), Tafel 1 nach S. 56

So klein und unscheinbar die von Heinrich Schmidt ausgeführte Graphik auf den ersten Blick auch scheinen mag, sind sie und die vorbildgebende Stichzeichnung Johann Heinrich Rambergs doch von großer Bedeutung für die künstlerische Auseinandersetzung mit Raffael, seinen Werken und seiner Vita im 19. Jahrhundert. In der Forschung wird sie als Gründungsmoment einer Bildschöpfung bzw. eines Topos angesehen, welcher über Jahrzehnte hinweg immer wieder durch Künstler – beispielsweise durch August Ferdinand Hopfgarten und Johann Michael Wittmer – aufgegriffen und variiert wurde. (Anm. 1) Der Kupferstich erschien erstmals 1819 als Illustration zur Erzählung Madonna della Sedia im ersten Band der von Ernst Christoph Freiherr von Houwald in insgesamt drei Bänden herausgegebenen ersten Auflage seines Buches für Kinder gebildeter Stände, dessen zweite Auflage von 1821 hier vorliegt. (Anm. 2)

Die Erzählung beschreibt in Form einer Legende die Entstehung der Madonna della Sedia, einem der beliebtesten Gemälde Raffaels (vgl. Inv-Nr. 50034): Ein Einsiedler rettet sich vor einer Flut auf eine nahe seinem Haus stehenden Eiche. Nach mehreren Tagen findet ihn Marie, Tochter eines in der Gegend lebenden Winzers, welche von Kindheit an oft zu ihm kommt und bringt ihm Nahrung. Der Einsiedler segnet daraufhin den Baum und Marie, welche er beide als seine Kinder bezeichnet. Jahre später – die Eiche wurde inzwischen gefällt und ihr Holz zu Fässern verarbeitet – spaziert Raffael am Hause des Winzers vorbei und sieht dort die nunmehr herangewachsene und verheiratete Marie mit ihren beiden Söhnen sitzen. Der Anblick erscheint ihm wie eine göttliche Eingabe vom lebendigen Abbild der himmlischen Muttergottes mit Christus und Johannes, und in Ermangelung von Papier oder Leinwand bannt er die Szene just auf den Boden jenes Fasses, welches aus dem Holz der Eiche gefertigt wurde. (Anm. 3)

Das Spinnen einer derartig mit sakralen Motiven aufgeladenen Geschichte um das tondoförmige Gemälde erscheint typisch für den im 19. Jahrhundert besonders durch den Kreis nazarenischer Künstler vorangetriebenen Kult um den Urbinaten und die Stilisierung zum Raffaello divino. (Anm. 4) Auf der Suche nach Zeugnissen seiner ‚Göttlichkeit‘ wurden zahlreiche seiner Werke und überlieferten Taten herangezogen und mit derartigen Legenden verwoben, wie besonders prominent die erste Ausgabe der Vita der Brüder Riepenhausen zeigt (Inv-Nr. kb-1863-85-304-1 bis -12). Die Popularität der von Schmidt und Ramberg geschaffenen Ikonographie hielt bis ins 20. Jahrhundert hinein ungebrochen an und schlägt sich noch in einem um 1906 gedruckten Liebig-Sammelbildchen zum Leben Raffaels nieder (Inv-Nr. 2020-4-1 bis -6) Der vorliegende Kupferstich als ikonographischer Ausgangsmoment ist damit ein sprechendes Beispiel für die Bedeutung, welche der Druckgraphik als Medium sowohl für die künstlerische und kunsthistorische Raffaelrezeption, als auch für die breitenwirksame Popularisierung des Urbinaten zuzusprechen ist.
Klara Wagner

1 Höper 2001, S. 315–316, Nr. D 35.
2 Ernst von Houwald: Buch für Kinder gebildeter Stände. Erstes Bändchen. Schauspiele, Mährchen Romanzen und Erzählungen. Mit fünf Kupfern von Böhm, H. Schmidt und Schwerdgeburth nach Ramberg, Leipzig 1819
3 Houwald 1821, S. 57–70.
4 Pfisterer 2012, S. 83–84; Grewe 2012, S. 269–270.

Details zu diesem Werk

Kupferstich, Radierung 108mm x 71mm (Bild) 166mm x 100mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Bibliothek. Erworben 2020 vom Antiquariat Langguth in Köln mit Mitteln des Fördervereins "Die Meisterzeichnung. Freunde des Hamburger Kupferstichkabinett e. V." Inv. Nr.: kb-2020-455g-2 Sammlung: KK Druckgraphik, Deutschland, 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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