Ernst Rauch, Stecher
nach Joseph von Führich, Zeichner, Erfinder

Raffael und Michelangelo begegnen sich in einer römischen Osteria, 1829

In: "Taschenbuch aus Italien und Griechenland auf das Jahr 1829", hrsg. v. Wilhelm Waiblinger, Berlin 1829, Tafel 2

Der schwäbische Dichter Wilhelm Waiblinger studierte ab 1822 Theologie und Philologie in Tübingen und besuchte häufiger den bereits seit langer Zeit als wahnsinnig geltenden Dichter Friedrich Hölderlin, dessen Leben er später als erster beschrieb. (Anm. 1) Nach einem skandalösen Verhältnis mit einer älteren Frau, das entdeckt wurde, und aufgrund seiner homoerotischen Neigungen, u. a. zu dem Dichter Eduard Mörike, musste Waiblinger im September 1826 das Theologiestudium aufgeben und lebte fortan ausschweifend, was er in seinen Werken auch des Öfteren thematisch beschreibt. Von Tübingen aus reiste Waiblinger im Herbst 1826 nach Rom, wo er in wilder Ehe mit einer Italienerin lebte und u. a. das Taschenbuch aus Italien und Griechenland bis zu seinem frühen Tod 1830 in zwei Bänden herausgab. Sein Grab befindet sich auf dem Protestantischen Friedhof (Cimitero Acattolico) bei der Cestius-Pyramide. (Anm. 2)
In der Novelle Das Blumenfest (S. 21–158), zu der der vorliegende Kupferstich gehört, beschreibt Waiblinger ausführlich eine Reihe tragischer Liebesränke um Raffaels Mäzen Agostino Chigi – von Waiblinger Prinz Giulio genannt –, der die Fresken der Villa Farnesina, einem Gartenhaus in Trastevere, in Auftrag gab. Die Zeichnung für den Stich von Ernst Rauch lieferte der aus dem böhmischen Kratzau stammende nazarenische Künstler Joseph von Führich, der seit 1827 in Rom lebte und auch an den von den Lukasbrüdern um Friedrich Overbeck im Casino Massimo ausgeführten Wandbildern beteiligt war. Waiblinger hatte dem Zeichner Führich freie Hand gelassen, ihm lediglich einige der erdachten Szenen seiner Novelle vorab mündlich mitgeteilt. Der Künstler hatte dann die endgültige Szene „gewiss zur Freude unseres Publicums“ (Anm. 3) – so Waiblinger – daraus selbst ausgewählt. (Anm. 4)
Waiblingers Interesse galt früh neben der Literatur auch der bildenden Kunst5 und so baute er im Blumenfest zwei kurze Szenen ein, in denen Raffaels Verhältnis zu Michelangelo und ein fiktives Zusammentreffen der beiden in einer römischen Osteria thematisiert werden, ohne dass diese in engerem Zusammenhang mit der Gesamtgeschichte der Novelle stehen. Zusätzlich stellte der Dichter dem Buch, wie in vielen Taschenbüchern und Almanachen üblich, eine Erklärung der Kupfer voran, in der auf die unterschiedlichen Charaktere der beiden Künstlerpersönlichkeiten ausführlich eingegangen wird. Der Dichter gibt an selber Stelle zu, dass diese Begegnung der beiden Heroen rein fiktiver Natur und nicht einmal in Vasaris Lebensbeschreibungen erwähnt sei und in Bezug auf die erwähnten Kunstwerke lauter Anachronismen enthält. Es ging ihm allein um das anschauliche psychologische Charakterbild der beiden so unterschiedlichen Maler, das der Leser „ohne historischen Scrupel“ (Anm. 6) anschauen soll.
Im Gegensatz zu Reifenscheids Meinung (Anm. 7) lassen sich sowohl alle auf dem Stich zu findenden Personen, wie auch der Kontext des Zusammentreffens innerhalb der Novelle bestens entschlüsseln. Nachdem Raffael in Waiblingers Novelle gegenüber Giulio Chigi zu Erkennen gab, dass er Michelangelos Werke höher schätze als die eigenen und das dieser während einer mehrtägigen Abwesenheit Raffaels heimlich dessen Farnesina-Fresken betrachtet und eine Zeichnung mit einem Alexanderkopf dort hinterlassen hatte, kommt es in der Novelle zu dem hier dargestellten unverhofften Zusammentreffen der beiden Künstlergenies, deren Charaktere nicht unterschiedlicher sein könnten. Giulio Chigi, der beim Umherwandern in der Stadt am Forum des Nerva nahe des Kapitols eine der verrauchten Osterien betrat, traf dort überraschend Michelangelo an, einen „rauhen, ungesellschaftlichen, finsteren Charakter“ (Anm. 8), und kam mit ihm ins Gespräch. Als Chigi mit Michelangelo über Raffael sprechen wollte, antwortete dieser jedoch nicht. In jenem Moment trat unverhofft Raffael, begleitet von seinen Lieblingsschülern Giulio Romano und Giovanni da Udine, in die Osteria ein. Führich zeigt hier also den bescheidenen, vornehm gekleideten und für seine höflichen Umgangsformen bekannten Raffael, der sich zu Michelangelo an den Tisch setzt. (Anm. 9) Im Beisein des hinter ihm stehenden Giulio Chigi und seinen beiden am Tisch sitzenden, miteinander tuschelnden Schülern, reicht Raffael Michelangelo spontan die Hand („Meister Buonarotti, gebt mir Eure Hand!“), als dieser nach einem längeren und sehr zögerlichen, aber von gegenseitigem Respekt geprägten Gespräch zwischen den beiden, im Begriff ist, die Gesellschaft zu verlassen. Michelangelo setzte sich wieder und Raffael erzählte ihm, dass er den Alexanderkopf in der Farnesina wohl erkannte und dass er die Fresken in der Sixtinischen Kapelle heimlich gesehen hätte und ihn nun als seinen Lehrer fortan anerkennen würde. Michelangelo bleibt mürrisch und wenig gesprächig, fragt nur: „Wer hat Euch eingelassen?“ Als Raffael ihm ehrlich antwortet: „Verzeiht mir, ich darf es nicht verraten!“, erwidert Michelangelo nur kurz: „Gute Nacht“ und verlässt schlagartig die Osteria. Die Anwesenden bleiben zurück, schwankend zwischen Verständnis, das besonders Raffael selbst äußert, der befürchtete, dass Michelangelo im Zorn gegangen sei, und der harschen Kritik der anderen, die seine verletzte Eitelkeit ansprachen oder gar meinten, dass er nun allein den Triumph, den Raffael ihm in seiner bescheidenen Art gegönnt hatte, auskoste.
Beide Künstler wurden von Führich als Verkörperungen ihrer Kunst charakterisiert. Der alte, mürrisch-finstere, aber männliche Michelangelo, der ebenso verdreht am Tisch sitzt wie seine Propheten- und Sibyllenfiguren in der Sixtina und der zärtliche und anmutige junge Raffael, der sich freundlich und gesprächig am Tisch benimmt und sich körperlich ganz offen seinem Gegenüber und dem Betrachter des Kupferstichs zuwendet.
Andreas Stolzenburg

Reifenscheid 1991, S. 406–408, Nr. V,6;
Brandt/Hefele/Lehner/Pfisterer 2021, S. 269–271, Nr. 55 (Beitrag Julia Viehweg)

1 Friedrich Hölderlin’s Leben, Dichtung und Wahnsinn. Entstanden 1827/28, erstmals veröffentlicht, in: Zeitgenossen. Biographisches Magazin für die Geschichte unserer Zeit, Leipzig 1831.
2 Stanley-Price 2014, S. 147.
3 Waiblinger 1829, S. 8 (Erklärung der Kupfer).
4 „So haben wir dem vaterländischen Publikum wenn auch ein kleines, doch leicht zu verbreitendes Bildchen von dem ruhmwürdigen Künstler gegeben, der sein reiches Talent gegenwärtig genugsam in den Fresken zu Tasso beurkundet,
welche er in der Villa Massimi zu malen beschäftigt ist.“; Waiblinger 1829, S. 11.
5 Zu Waiblingers Verhältnis zur bildenden Kunst siehe Andressohn 2007.
6 Ebd., S. 9.
7 Reifenscheid 1991, S. 407.
8 Waiblinger 1829, S. 9.
9 Im Türdurchblick erkennt man die Kuppel einer Kirche. Reifenscheid 1991, S. 407 meint die Kuppel von St. Peter zu erkennen, die es zu Raffaels Zeiten aber lediglich als Plan gab. Waiblinger selbst spricht nur von der „Kuppel einer Kirche“, ohne konkret St. Peter als Bezugspunkt zu nennen; Waiblinger 1829, S. 11 (Erklärung der Kupfer).

Details zu diesem Werk

Kupferstich 102mm x 80mm (Bild) 137mm x 101mm (Platte) 154mm x 111mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Bibliothek. Erworben vom Antiquariat Müller & Gräff in Stuttgart, mit Mitteln des Fördervereins „Die Meisterzeichnung. Freunde des Hamburger Kupferstichkabinetts e.V.“ Inv. Nr.: kb-2020-144g-2 Sammlung: KK Druckgraphik, Deutschland, 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

Wir sind bestrebt, die Art und Weise zu hinterfragen, wie wir über Kunst und unsere Sammlung sprechen und diese präsentieren. Daher freuen wir uns über Ihre Anregungen und Hinweise.

Feedback