Christian Boltanski, Erfinder

"L'album photographique de Christian Boltanski 1948-1956", 1972

Hamburg, Edition Hossmann

Die Jahreszahlen des Fotoalbums verweisen auf die Kinderzeit des Künstlers, und auch die Fotografien mit ihren kurzen Erläuterungen beziehen sich auf diesen Zeitraum. Obwohl somit Text und Bild in Einklang gebracht sind, löst die Durchsicht des Album photographique doch Irritationen aus, die nicht nur dadurch entstehen, dass von dem, was die Bildunterschriften mitteilen, auf den Bildern kaum etwas wiederzufinden ist, weil entweder die Motive verschattet oder die betreffenden Personen abgewandt und daher nicht erkennbar sind. Darüber hinaus wird nämlich deutlich, dass die dargestellten kindlichen Handlungen von einem Erwachsenen ausgeführt werden: Die in dem Album versammelten Fotografien stammen also nicht aus der Kindheit des Künstlers, sondern wurden von ihm nachträglich aufgenommen. Nun könnte man vermuten, dass Boltanski im Nachstellen solcher Situationen versuchte, einer Zeit seiner Kindheit habhaft zu werden, die sich seiner Erinnerung entzieht; doch sehr viel näher liegt, dass sich in diesem Album die Auseinandersetzung mit dem fotografischen Bild mit grundlegenden Fragen des Erinnerns verbindet. Immerhin fällt auf, dass die vermeintlichen Kinderfotos ein Lebensalter dokumentieren sollen, an das die Betroffenen sich selbst nicht erinnern können, die vorgebliche Erinnerung bestenfalls durch Erzählungen anderer oder durch Bilder konstruiert ist. Einen solchen Akt des Konstruierens stellt die bewusst mangelhaft gehaltene Qualität der Aufnahmen nachdrücklich vor Augen – was noch deutlicher wird beim Vergleich mit den Originalfotografien, die der Künstler für die Reinzeichnung, also die Druckvorlage seiner Buchseiten nutzt. Diese von der Künstlerin Annette Messager aufgenommenen Bilder, die in Vorzugsausgaben wie dem in der Kunsthalle vorhandenen Exemplar den Büchern in einer Schachtel aus Weißblech beigefügt sind, erscheinen prägnanter, geben aber auch nicht mehr Informationen preis.
Viola Hildebrand-Schat
The years referred to in the photo album correspond to the artist’s childhood, and the photographs with their brief explanations also relate to this period. Although text and image are thus aligned, perusing the Album photographique is nonetheless perplexing, because not only do the captions refer to things that cannot usually be seen in the pictures, as the motifs are either in shadow or the people shown have their backs turned and are therefore unidentifiable. In addition, it gradually becomes clear that the childish actions described are being carried out here by an adult. The photographs assembled in the album are therefore not from the artist’s childhood at all but were instead taken after the fact. One might suspect that by re-enacting these situations Boltanski was trying to recapture a time in childhood that eludes his memory, but it is much more likely that the engagement with the photographic image in this album is more about fundamental questions of remembering. It is after all obvious that the alleged childhood photos are meant to document Boltanski’s life at an age he would be unable to remember, at best reconstructing the purported memories from stories told by others or through photographs taken at the time. The deliberately poor quality of the photos points to such a re -enactment – which becomes even more evident when these images are compared to the original photographs, which the artist uses for the print-ready copy of the book pages. These pictures taken by the artist Annette Messager, which in the special editions, like the one in the Kunsthalle, are enclosed with the book in a tin box, seem more telling but in fact do not reveal any more information than the images printed in the book.
Viola Hildebrand-Schat

Details zu diesem Werk

Hamburger Kunsthalle, Bibliothek Inv. Nr.: kb-1977-2274k Sammlung: KK Druckgraphik, 20.-21. Jh.

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