Giovanni Volpato, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler, Erfinder
Firmin Didot, Paris, Verleger

Die vier Sibyllen in S. Maria della Pace / "SIBYLLAE QVATVOR / A RAPHAELE SANCIO VRBINATE / ROMAE / IN ECCLESIA S. MARIAE PACIS / DEPICTAE", um 1835 (2. Pariser Ausgabe; Erstdruck 1773, gestochen 1772)

In: "Schola Italica Picturae", Paris um 1835, Tafel 11

Der wohlhabende Bankier Agostino Chigi zählt zu den wichtigsten Auftraggebern Raffaels. Neben der Errichtung und Ausgestaltung der Familienkapelle in S. Maria del Popolo (Inv.-Nr. kb-1863-85-523-8) sowie der Ausmalung einer am Tiber gelegenen Villa (heute Farnesina genannt; siehe Ausstellungskatalog Raffael. Wirkung eines Genies. 2021, Kat. 55-62) entwarf Raffael um 1510/11 (Anm. 1) zwei große Wandbilder in einer weiteren Familienkapelle in S. Maria della Pace in Rom. (Anm. 2) In der oberen Zone befinden sich vier Propheten, mit deren Ausführung sehr wahrscheinlich Timoteo Viti, ein mit Raffael befreundeter Maler betraut wurde. Unterhalb davon malte Raffael selbst eine Gruppe von vier Sibyllen und sie begleitende Engel und Putti.(Anm. 3) Unverkennbar spürbar ist bei den Figuren der Einfluss von Michelangelos Malereien in der Sixtinischen Kapelle, die um 1511 bereits teilweise vollendet waren. Die Figuren weisen aber dennoch eine Raffael eigene Eleganz und Schönheit auf. Entgegen den isolierten monumentalen Figuren in der Sixtina schuf Raffael ein eng verbundenes Ensemble, das durch seine fast tänzerisch leichte Bewegung und Haltung besticht.
Raffaels Kapellenbild veranlasste seinen frühen Biographen Giorgio Vasari zu wahren Lobeshymnen. Für diesen nahmen die Sibyllen und ihre Begleiter unter allen Werken des Künstlers eine absolut herausragende Stellung ein. (Anm. 4) Trotz dieser gewichtigen Fürsprache stand das Fresko stets im Schatten der anderen Wandbilder Raffaels. Dies gilt auch für den Bereich der Reproduktionsgraphik. So ist die Anzahl Nachweisbarer Gesamt- bzw. Detailwiedergaben ungewöhnlich gering. (Anm. 5) Ein Grund für dieses schwer nachvollziehbare Phänomen könnte in der schlechten Sichtbarkeit des Freskos in S. Maria della Pace liegen.
Vor diesem Hintergrund ist Giovanni Volpatos Gesamtansicht der Sibyllen-Gruppe als möglicherweise erstes Beispiel dieser Art umso gewichtiger. Volpato hatte eine hervorragende Ausbildung bei Antonio Baratti in Bassano erhalten. Nach prägenden Jahren in Venedig gelangte er 1772 nach Rom, wo er ein immenses Arbeitspensum entwickelte. Zu den ersten römischen Arbeiten zählt die Wiedergabe der Chigi-Kapelle, bei der Volpato als ein noch recht akademisch wirkender, detailgenauer Stecher auftritt. Obgleich er für den Spannungsaufbau Kontraste setzt, ist die Gesamtwirkung ausgewogen. Erkennbar ist eine Tendenz zur Weichheit, worin man venezianischen Einfluss erkennen könnte. (Anm. 6) Eine nicht unerhebliche Schwierigkeit bestand in der optisch ansprechenden Gestaltung der halbrunden Öffnung im mittleren Teil des Wandbildes, da sich dort in S. Maria della Pace ein barocker Altaraufbau befindet. Volpato wählte eine erklärende Inschrift vor dunklem Fond, wodurch die Figuren nicht allzu stark bedrängt werden. (Anm. 7)
Die Reproduktion der Chigi-Kapelle erschien in der von dem kunstsinnigen Schotten Gavin Hamilton 1773 herausgebrachten, 40-teiligen Edition Schola Italica Picturae (Schule der italienischen Malerei). (Anm. 8) Dabei handelt es sich um die wohl erste umfassendere Zusammenstellung herausragender Werke italienischer Meister verschiedener Schulen mithilfe von Reproduktionsgraphiken. Wiedergegeben wurden beispielsweise Malereien von Michelangelo, Tizian, Correggio, Caravaggio oder Guercino. Raffael war neben den Sibyllen auch mit Reproduktionen der Galatea und der Fornarina (Inv.-Nr. kb-1915-643-9) vertreten. (Anm. 9)
Die Arbeit an der Schola war für Volpatos Entwicklung bedeutsam. (Anm. 10) Binnen kurzer Zeit entwickelte er sich zu einem der führenden Reproduktionsgraphiker seiner Epoche. Dabei spielte das Oeuvre Raffaels eine entscheidende Rolle. Mit seinen Wiedergaben der Loggien und Stanzen sollte er für lange Zeit die gültigen Maßstäbe setzten (siehe Ausstellungskatalog Raffael. Wirkung eines Genies. 2021, Kat. 19, 26, 39, 41).
David Klemm

LIT (Auswahl): Marini 1988, S. 117–118, Nr. 166, Abb. S. 121 (mit älterer Lit.);
Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 148, Nr. IV.8; Höper

1 Die Datierung schwankt in der Literatur. So gibt Pfisterer 2019, S. 183, das Datum 1513/14 an. Stilistische Befunde nicht zuletzt der Vorstudien legen eine frühere Datierung nahe; vgl. Ausst.-Kat. Wien 2017, S. 212–221. Dort findet sich auch eine hervorragende Abbildung der Kapellenrückwand.
2 Weitere Planungen für den Altar der Kapelle kamen über ein Anfangsstadium nicht hinaus; vgl. Ausst.-Kat. Wien 2017, S. 222–225.
3 Die genaue Identifikation der Seherinnen ist bis heute nicht eindeutig gelungen ist. Ältere Romführer benennen die Cumäische, Persische, Phrygische und Tiburtinische Sibylle; vgl. Höper 2001, S. 331.
4 „la più rara ed eccelente opera che Raffaello facesse in sua vita.“; zit. nach Höper 2001, S. 331; vgl. auch Vasari/Gründler 2004, S. 45.
5 Vgl. Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 147–148. Zunächst erschienen wohl vornehmlich Einzelfiguren bzw. kleinere Gruppen.
6 Volpato geht in einem Brief an Giovambattista Remondini auf die Weichheit der Farben auf Raffaels Wandbild explizit ein; vgl. Ausst.-Kat. Bassano del Grappa/Rom 1988, S. 118.
7 Claude Marie François Dien löste dieses Darstellungsproblem, indem er in das Halbrund einen Altaraufbau mit einer Raffael-Büste als Bekrönung stellte; vgl. Höper 2001, S. 332, Nr. E 2.3 und Abb. auf S. 330. Eine eigene Zutat sind auch die auf die Sibyllen bezogenen Verse unterhalb der Darstellung.
8 Die vorliegende Reproduktion befindet sich mit den anderen Blättern der Schola seltsamerweise in einer 29-bändigen Ausgabe mit Werken von Giovanni Batttista Piranesi, die Firmin Didot um 1835 in Paris herausbrachte (vgl. kb-1915- 643-1 bis 40). Dabei wurden möglicherweise Nachdrucke von den alten Platten ausgeführt.
9 In der Schola befindet sich im Zusammenhang mit Raffael auch die Hochzeit von Alexander und Roxane. Dieses Bild geht wohl auf Entwürfe Raffaels zurück, wurde aber von Siciolante di Sermoneta ausgeführt; vgl. Ausst.-Kat. Bassano del Grappa/Rom 1988, S. 117, Nr. 165.
10 Volpato steuerte acht Tafeln zu der Edition bei.

Details zu diesem Werk

Kupferstich 272mm x 537mm (Platte) 578mm x 442mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Bibliothek Inv. Nr.: kb-1915-643-11 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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