Étienne Achille Réveil, Radierer
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler
Louis Eustache Audot, Verleger

Jesus übergibt Petrus die Schlüssel zum Himmelreich / "JÉSUS-CHRIST INSTITUANT SṬ PIERRE CHEF DE L'EGLISE.", 1830

In: Album mit 151 Umrisslinienradierungen nach Werken Raffaels oder seines Kreises, Paris o.J., Tafel 92

Innerhalb von Raffaels Teppichfolge nimmt die Schlüsselübergabe an Petrus eine für das Selbstverständnis der Kirche zentrale Rolle ein. Sie fand in zahlreichen Reproduktionen weite Verbreitung, wobei vornehmlich die Kartons und weniger die Teppiche selbst als Vorlagen dienten. Neben ambitionierten Graphiken – etwa von Gérard Audran oder Nicolas Dorigny – finden sich auch stark vereinfachte Wiedergaben.
Ein Beispiel dafür bildet die kleinformatige Radierung Achille Réveils, die sicherlich nach einem Teppich entstanden ist. Charakteristisch ist die Konzentration auf Umrisslinien bei gleichzeitigem Verzicht auf jegliche Binnenstrukturierung. Auf diese Weise wird die komplexe Komposition klar erkennbar vor Augen geführt. Die Darstellung ist aber keineswegs, wie sonst häufig bei Umrissradierungen, kraftlos, sondern wirkt durch die Verwendung differenzierter Strichstärken spannungsvoll.
Zu sehen ist Christus, der in hoheitsvoller Haltung mit seiner rechten Hand auf den vor ihm demutsvoll knienden Petrus weist. Dieser hält bereits die ihm anvertrauten Schlüssel vor der Brust. Gleichzeitig überträgt ihm Christus auch das Amt des Oberhirten über seine Jünger, indem er mit seiner linken Hand auf die hinter ihm befindlichen Schafe zeigt. Mit dieser doppelten Autorisierung erhält der Apostelfürst größte kirchliche Macht, woraus all seine Nachfolger ihre Legitimation ableiteten. Dies gilt auch für Papst Leo X., der als Auftraggeber des Teppichs mit Raffaels einzigartiger Bildlösung sehr zufrieden sein konnte.
Neben der kirchenpolitischen Dimension gebührt der Komposition an sich starke Beachtung. Raffael zeigt hier einmal mehr seine besondere Begabung, mehrere Personen in einem Raum spannungsvoll zu verorten. Auch zählen die Darstellungen von Christus und Petrus zu seinen schönsten Erfindungen.
Die Reproduktion entstammt dem Sammelwerk Musée de Peinture et de Sculpture [...], welches Achille Réveil zwischen 1829 und 1834 in zahlreichen Bänden in Zusammenarbeit mit dem Verleger Audot herausbrachte. Beide Akteure verantworteten auch Les Amours de Psyché d’après Raphael (Paris 1832) und Les Loges du Vatican, Sujets Peints a Fresque [...] (Paris 1833). Innerhalb von nur fünf Jahren war damit die stattliche Anzahl von mehr als 150 Reproduktionen nach Werken Raffaels als Umrisslinienradierungen veröffentlicht worden. Dessen Bedeutung wird keineswegs dadurch geschmälert, dass nicht alle Hauptwerke vertreten waren und dass einige heute nicht mehr als authentisch angesehene Werke aufgenommen wurden.
Derartig umfassende Editionen mit Werken Raffaels waren bis dahin selten. Kurz nach 1803 war Charles-Paul Landon mit einer gleichermaßen umfassenden wie beeindruckenden Publikation von nicht weniger als 475 Reproduktionen in acht Bänden auf den Markt gegangen. (Anm. 1) Gegenüber dieser Edition waren die Serien von Réveil und Audot bewusst weniger anspruchsvoll und dadurch auch günstiger. Hierzu trugen das kleine Format und die gewählte Radiertechnik bei, die eine kurze Produktionszeit garantierte. Auch dürfte die Auflage relativ hoch gewesen sein, da die mehrsprachigen Bildunterschriften auf eine internationale Vermarktung hindeuten.
Die offenbar weite Verbreitung der Folgen belegt, dass das verlegerische Kalkül aufgegangen ist. (Anm. 2) Réveil und Audot haben so dazu beigetragen, dass ein gewichtiges Kapitel europäischer Hochkunst für breitere Bevölkerungsschichten besser zugänglich war. Es ist dabei umso erfreulicher, dass die Werke Raffaels dabei in akzeptabler Qualität angeboten wurden.
David Klemm

LIT (Auswahl): Höper 2001, S. 485, Nr. H 2.5

1 Krause/Niehr/Hanebutt-Benz 2005, S. 84; zur Edition von Landon ebd., S. 84–86, Nr. 3.
2 Die Übergabe der Schlüssel an Petrus befindet sich in Hamburg in einem Sammelalbum, in dem alle drei genannten Editionen von Réveil und Audot enthalten sind. Allerdings wurden sämtliche Blätter beschnitten und in einer Reihenfolge in das Album eingeordnet, die nicht derjenigen der Vorlagen entspricht

Abgekürzt zitierte Literatur:
Höper 2001 Corinna Höper, in Zusammenarbeit mit Wolfgang Brückle und Udo Felbinger: Raffael und die Folgen. Das Kunstwerk in Zeitaltern seiner graphischen Reproduzierbarkeit, Ausst.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart, Ostfildern-Ruit 2001Hamburger Kunsthalle 1989

Krause/Niehr/Hanebutt-Benz 2005
Bilderlust und Lesefrüchte. Das illustrierte Kunstbuch von
1750 bis 1920, hrsg. v. Katharina Krause, Klaus Niehr und, Eva Maria Hanebutt-Benz, Begleitbuch zur Ausstellung des Gutenberg-Museums Mainz, Leipzig 2005

Details zu diesem Werk

Umrisslinienradierung 90mm x 140mm (Bild) 110mm x 170mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Bibliothek Inv. Nr.: kb-1904-77-92 Sammlung: KK Druckgraphik, Frankreich, 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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