Ludwig Gruner, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Erfinder
Tipografia Salviucci, Drucker

"GIOVE" / Jupiter, 1839

In: "I MOSAICI DELLA CUPOLA NELLA CAPPELLA CHIGIANA DI S. MARIA DEL POPOLO IN ROMA [...]", Rom 1839, Tafel 8

Der sehr wohlhabende Bankier Agostino Chigi war nach den Päpsten der wohl wichtigste Auftraggeber Raffaels. Neben Wandmalereien in der Farnesina (siehe Ausstellungskatalog Raffael. Wirkung eines Genies, 2021 Kat. 55–62) und in S. Maria della Pace (Inv.-Nr. kb-1915-643-11) beauftragte er auch Bau und Ausstattung der Familienkapelle der Chigi in der am damaligen nördlichen Stadtrand gelegenen Kirche S. Maria del Popolo. Raffael entwarf ab 1512 nicht nur die Architektur, sondern auch die komplette Ausstattung der im linken Seitenschiff befindlichen Kapelle, darunter Skulpturen und die etwa 1516 vollendeten Deckenmosaiken. Die von Raffael als wegweisendes Gesamtkunstwerk konzipierte Kapelle blieb bei seinem Tod unvollendet – das Hochaltargemälde sowie zwei Skulpturen von Giovanni Lorenzo Bernini kamen erst später hinzu. (Anm. 1)
Die von Luigi de Pace ausgeführten Deckenmosaiken zeigen im Zentrum Gottvater, der die heimkehrenden Seelen empfängt. Darum sind acht trapezförmige Felder angeordnet. In ihnen befinden sich die jeweils von einem Engel begleiteten Planetengötter, die zugleich als Tierkreiszeichen fungieren, und der Fixsternhimmel. Um die Deutung dieser Komposition wird seit langem gerungen. So könnten sich in dieser Anordnung Ideen Platons spiegeln, der die Herkunft der menschlichen Seele aus der Sphärenwelt und ihre Heimkehr dorthin benannt hatte. (Anm. 2) Neuerdings wurde ein stärkerer Einfluss Dantes auf das Programm zur Diskussion gestellt. (Anm. 3) In jedem Fall sind die Tierkreiszeichen Symbole des Übergangs von der irdischen Welt zum ewigen Leben. Die Ikonographie der Kapelle zeigt damit eine für die Renaissance typische Christianisierung antiker religiöser Vorstellungen (Anm. 4)
Trotz der großen Anmut und Ausdruckskraft fanden Raffaels Erfindungen offenbar erst im späten 17. Jahrhundert die ihnen gebührende Aufmerksamkeit der Reproduktionsgraphiker. Der damals in Rom tätige französische Graphiker Nicolas Dorigny radierte 1695 eine komplette Folge, die bereits kurz nach ihrem Erscheinen hohes Ansehen genoss und mehrfach kopiert wurde. (Anm. 5) 1839 setzte dann Ludwig Gruner einen weiteren wichtigen Akzent mit einer Publikation, die neben einer längeren Erläuterung von Antonio Grifi zehn Reproduktionen enthielt. (Anm. 6) Diese basierten auf sorgfältigen Zeichnungen Nicola Consonis, einem vielseitig begabten Künstler, mit dem Gruner in der Folgezeit wiederholt zusammenarbeiten sollte (Inv.-Nr. 56956). (Anm. 7) Consoni griff auf Durchzeichnungen zurück, die Giuseppe Cades am Ende des 18. Jahrhunderts angefertigt hatte. (Anm. 8)
Das Werk fand unmittelbar nach Erscheinen eine sehr positive Aufnahme. Alfred Reumont lobte im Kunstblatt, dass die beiden Künstler aufgrund ihrer genauen Kenntnis von Raffaels Werken dessen „reinste Eigenthümlichkeit“ bestens bewahrt hätten. (Anm. 9) Reumont hob zudem nachdrücklich die adäquate Umsetzung von Consonis leicht ausgeführten Zeichnungen durch den Stich hervor. Ihn überzeugten Gruners reine und sichere Umrisse und seine ohne Ängstlichkeit gesetzten Schraffuren. Seine Reproduktionen wirkten für ihn klar konturiert, aber nicht hart. Diese Einschätzung findet ihre überzeugende Bestätigung in der Darstellung Jupiters und des ihn begleitenden Engels. Diese Figur stellt mit ihrer Anmut die höchste antike Gottheit geradezu in den Schatten und darf zu Raffaels schönsten Erfindungen gezählt werden.
Wie Gruner in der Vorbemerkung seiner Edition feststellte, orientierte er sich bei seinen Chigi-Illustrationen an der Technik der Stecher des frühen 16. Jahrhunderts. Besonders intensiv hatte er sich mit Marcantonio Raimondi beschäftigt und sogar einige von dessen Werken täuschend echt kopiert.
Die Reproduktionen der Mosaiken der Chigi-Kapelle markieren Gruners Einstieg in eine intensive publizistische Beschäftigung mit Raffael. In den folgenden vier Jahrzehnten avancierte er zu einem der wichtigsten Reproduktionsgraphiker von dessen OEuvre – nicht nur des 19. Jahrhunderts (vgl. Inv.-Nr. 70525, 56956, 17210e).
David Klemm

LIT (Auswahl): Höper 2001, S. 339, Nr. E 4.4.4 (mit älterer Lit.); Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 188–189, Nr. 69

1 Zur Kapelle siehe Dussler 1966, S. 105–106; Pfisterer 2019, S. 180–187.
2 Ausst.-Kat. Dresden, Dresden 1983, S. 81–82.
3 Pfisterer 2019, S. 184–187.
4 Ausst.-Kat. Dresden 1983, S. 81–82.
5 Höper 2001, S. 334–337.
6 Die Ausgaben von I MOSAICI DELLA CUPOLA NELLA CAPPELLA CHIGIANA DI S. MARIA DEL POPOLO IN ROMA [...] in der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart und im Hamburger Kupferstichkabinett unterscheiden sich in der Anordnung der Blätter. Die Hamburger Edition folgt dem Text, der in Stuttgart fehlt. Möglicherweise wurde die dortige Ausgabe zu einem unbekannten Zeitpunkt neu angeordnet; Höper 2001, S. 338–339, Nr. E. 4.4.
7 Die Mitarbeit von Consoni wird von Reumont 1840 in seiner Rezension im Kunstblatt ausdrücklich formuliert. Sie findet keinerlei Entsprechung in der Publikation selbst. Es bleibt rätselhaft, dass Gruner in seiner Vorbemerkung darauf nicht eingeht und dass keines der Blätter einen Hinweis auf den Zeichneraufweist. Da Reumont aber sehr gut informiert ist und 1840 auch am Entstehungsort der Folge in Rom war, erscheinen seine Angaben durchaus plausibel. Zum Verhältnis von Gruner und Consoni siehe Capitelli 2018.
8 Reumont 1840, S. 190.
9 Ebd.

Details zu diesem Werk

Kupferstich 170mm x 144mm (Bild) 239mm x 186mm (Blatt) 236mm x 194mm (Platte) 397mm x 278mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Bibliothek Inv. Nr.: kb-1863-85-523-8 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

Wir sind bestrebt, die Art und Weise zu hinterfragen, wie wir über Kunst und unsere Sammlung sprechen und diese präsentieren. Daher freuen wir uns über Ihre Anregungen und Hinweise.

Feedback