Wilhelm Lehmbruck
Betende, 1919
Während des Ersten Weltkriegs konzentrierte sich der bekennende Pazifist Wilhelm Lehmbruck auf Bildnisse, die er als Aufruf zu friedvoller Menschlichkeit verstanden wissen wollte. Sein letztes Schaffen im Zürcher Exil, vor seinem Freitod 1919, war geprägt von einem fragmentarischen Stil, in dem er expressive Torsi gestaltete. Exemplarisch dafür ist die gerüsthafte Abstraktion dieser weiblichen Halbfigur mit ihrer Betonung linearer Achsen und stereometrischer Grundformen. Rumpf und Glieder der Betenden sind fast bis zur eisernen Armierung des Kunststeins abgemagert. Dem asketischen Äußeren entspricht die innere Konzentration auf ihre Fürbitte. Sie hat ihren Blick auf unsichtbar Fernes gerichtet. Eine Spannung zwischen geistigem Dort und körperlichem Hier tritt hervor. In zeitloser Nacktheit erscheint die Frau mit Schleier als eine Pietà, welche die Toten des Krieges beweint, oder, wie Lehmbruck es beschrieb, als »eine Frau, die den Krieg zu Tode betet«. Zugleich gab der Künstler dem Gesicht die Züge der von ihm unerwidert geliebten Schauspielerin Elisabeth Bergner, von der er hoffte, aus seiner Depression gerettet zu werden. Lehmbrucks Figur enthält alle Trauer über die Gegenwart und zugleich ein utopisches, weil hoffendes Element. Sie ist auf den Frieden Europas gerichtet.
Dagmar Lott-Reschke