Max Klinger
Kassandra, um 1895
Im wörtlichen Sinne augenfällig manifestiert sich in Klingers Marmorbüste der Abschied vom weißen, ins Ideale entrückten Klassizismus des 18. und 19. Jahrhunderts. Die transparente farbige Fassung des Steins vermittelt eine geradezu erschreckende Lebensnähe, die durch den streifigen Farbauftrag zugleich wieder zurückgenommen wird. Diese Spannung von Künstlichkeit und Natürlichkeit kulminiert im rötlichen Bernstein der Augen: Sie wirken, auch aufgrund der Verletzlichkeit des organischen Materials, wie blutunterlaufen. Klinger gelingt es so, den antiken Mythos symbolisch zu verdichten. Die trojanische Königstochter Kassandra war von Apoll mit der Gabe der Weissagung ausgestattet worden; als sie den Gott dennoch verschmähte, verdammte er sie dazu, mit ihren Prophezeiungen niemals Gehör zu finden, und strafte sie obendrein mit Blindheit. Kassandras visionäre Begabung und gleichzeitig die schmerzliche Einsicht in die Vergeblichkeit der Rede und das Bewusstsein vom tragischen Ausgang der Geschichte, von den Zeitgenossen unter Rekurs auf Schopenhauer und Nietzsche als Haltung eines „heroischen Pessimismus“ verstanden, finden in Klingers Skulptur einen höchst konzentrierten gestalterischen Ausdruck.
Florian Britsch