Jacob Jordaens

Studie für eine 'Verkündigung an die Hirten', 1622, um

Die ausgeführte Detailkomposition könnte als modello für ein größeres Gemälde gedient haben. Der Kopf des Alten ist ehrfurchtsvoll emporgerichtet; die vor der entblößten Brust betend erhobenen Hände lassen auf eine göttliche Vision schließen. Der junge Mann in rotem Gewand hinter ihm hat seinen Kopf abgewendet. Beide Gesichter sind mit breiten, pastosen Strichen plastisch modelliert, Haar und Bart des Alten vollständig ausgeführt. Wie die Infrarotreflektographie zeigt, griffen die Hände des Alten ursprünglich in das geöffnete Gewand vor der Brust; bei der Korrektur wurde der Fall des Gewandes verändert.
Die älteren Kataloge sprechen von der Studie zu einer Verkündigung an die Hirten, ein entsprechendes Gemälde Jordaens' ist jedoch nicht bekannt; auch wurden die beiden Figuren mit Abraham und Isaak,2 dem Evangelisten Matthäus mit dem Engel3 sowie den Heiligen Petrus und Johannes (?) identifiziert.4 Möglichweise aber ist der Moment dargestellt, in dem Gott Abraham in Sichem erscheint; bei dem Jungen würde es sich dann um dessen Neffen Lot handeln.5
Von dem Kopf des Alten existiert eine Vielzahl von Einzelstudien, die sich in der Ausarbeitung des Gesichtes von Inv. 82 unterscheiden. Mit groben Strichen sind dort die Farben ohne Übergänge alla prima nebeneinandergesetzt. Die Kopfstudie in Detroit, als Hiob gedeutet, kommt in der Haltung der Hände dem ursprünglich angelegten Entwurf von Inv. 82 am nächsten;6 die Studie in Brüssel zeigt die ausgeführte Handhaltung.7 Weitere Ölskizzen mit dem gleichen Kopf befinden sich u. a. in Caen8, Prag9 (beide mit vor der Brust gefalteten Händen), Douai10, Gent11, Warschau12 und in Privatsammlungen13.
Das Modell für den alten Mann war Abraham de Graef (Grapheus), seit 1572 selbst Mitglied der Gilde und zugleich deren Diener (knaap). Cornelis de Vos malte 1620 ein Ganzfigurenportrait von ihm,14 auch für Van Dyck stand De Graef bis 1621 Modell, so für die Apostelstudie in Berlin, die als Vorlage für Van Dycks Ausgießung des Heiligen Geistes in Potsdam15 diente. Die Apostelstudie, auf Papier gemalt und später auf Holz aufgezogen, wurde angeblich von Jordaens an den Seiten vervollständigt.16 Von dem jungen Mann auf Inv. 82 sind dagegen keine Einzelstudien bekannt.
Innerhalb des Werkprozesses spielten die Kopfstudien für Jordaens wie für Rubens und Van Dyck eine wichtige Rolle. Sie dienten, so die Ölskizze in Douai, als Vorlagen für Gemälde oder wurden in abgeänderter Form im Sinne eines ricordo weiterverwendet.17 So findet sich der junge Mann von Inv. 82 auf dem Brustbild des Johannes in Groningen wieder;18 ebenso mit nahezu identischer Kopfhaltung auf zwei Fassungen der Anbetung der Hirten in Den Haag und Stockholm.19 Letztere entstand 1618, ein Datum, das auch für Inv. 82 angenommen werden kann. De Graefs Gesichtszüge hat Jordaens auch nach dessen Tod 1624 mehrfach aufgenommen. Auf einigen Historienbildern wurden die beiden Köpfe gemeinsam dargestellt.20
Das Schabkunstblatt von Huck nennt noch Rubens als Maler,21 die Zuschreibung an Jordaens stammt von Harzen. Er verglich Inv. 82 mit der Allegorie des Überflusses in Brüssel, auf der ebenfalls das Gesicht De Graefs vorkommt.

Thomas Ketelsen 2001

1 J. Wadum, The Antwerp Brand on Paintings on Panel, in: Leids Kunsthistorisch Jaarboek 11, 1998, S. 185, Abb. 4.
2 Catalogue 1811, S. 56, Nr. 226: »Abraham et Isaac en prières, après que le premier est dispensé du sacrifice du fils«. Vgl. Jordaens' Opferung Isaaks, Lw., 242 x 155 cm, Pinacoteca di Brera, Mailand, Inv. 699, mit anderer Komposition; Jacob Jordaens (1593-1678), bearb. v. R.-A. d'Hulst u. a., 2 Bde., Ausst. Kat. Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Antwerpen 1993, Bd. 1, S. 128 f., Nr. A 35 (um 1625-1630).
3 Van Puyvelde 1953, S. 84, 195.
4 Jacob Jordaens 1993 (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 98, Anm. 13.
5 Vgl. Im Lichte Rembrandts. Das Alte Testament im Goldenen Zeitalter der niederländischen Kunst, hrsg. v. Chr. Tümpel, Ausst. Kat. Westfälisches Landesmuseum, Münster u. a. 1994,
S. 27 f.
6 Holz, 67 x 52 cm, Detroit Institute of Arts, Detroit, Inv. 43.418;
Flemish and German Paintings of the 17th Century, bearb. v.
J. Held, Detroit 1982, S. 64-66; Jacob Jordaens 1993 (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 100 f., Nr. A 22.
7 Holz, 59 x 48 cm, Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel, Inv. 121; Katalog Brüssel 1984, S. 157, als Apostelkopf gedeutet.
8 Holz, 64,5 x 50 cm, Musée des Beaux-Arts, Caen, Inv. 115; Peintures des écoles étrangères, bearb. v. F. Debaisieux, Paris 1994, S. 249-251, Nr. 129; vgl. die Werkstatt-Wiederholung, Verst. Amsterdam (Sotheby's), 13. 11. 1991, Nr. 60.
9 Holz, 68,5 x 51,5 cm, Národni Galerie, Prag, Inv. 0-2814; Jacob Jordaens 1993 (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 96, Abb. A 21c.
10 Holz, 41,4 x 29 cm, Musée de la Chartreuse, Douai,
Inv. 198; Jacob Jordaens 1993 (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 102 f.,
Nr. A 23.
11 Öl auf Papier, auf Holz aufgezogen, 45,2 x 52 cm, Museum voor Schone Kunsten, Gent, Inv. 1899B; Jacob Jordaens 1993 (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 96 f., Nr. A 21.
12 Holz, 40,5 x 31,5 cm, Muzeum Narodowe, Warschau,
Inv. Wil. 1540.
13 Vgl. Van Puyvelde 1953, S. 84.
14 Vgl. Holz, 120 x 102 cm, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Antwerpen, Inv. 104; Van Bruegel tot Rubens. De Antwerpse schilderschool 1550-1650, Ausst. Kat. Antwerpen 1993, S. 154 f., Nr. 65.
15 Lw., 265 x 220,5 cm, Bildergalerie Sanssouci, Potsdam,
Inv. 46; Die Gemälde der Bildergalerie von Sanssouci, bearb. v. G. Eckardt, Potsdam 1990, S. 30 f.
16 Papier auf Eichenholz, 58,3 x 46,6 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Inv. 790F; Katalog Berlin 1996, S. 43, 282, Abb. 932. Eine fast maßstabsgetreue Kopie nach der Berliner Ölskizze im Mittelrhein-Museum, Koblenz, Inv. M 107; Niederländische Meister, bearb. v. E. Schaar, Koblenz 1968,
S. 55.
17 J. Müller-Hofstede hat auf die unterschiedliche Funktion der
bozzetti und modelli in Jordaens' Werkstatt hingewiesen; Neue Beiträge zum Œuvre Anton van Dycks, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 48/49, 1987/88, S. 147.
18 Holz, 67 x 48 cm, Groninger Museum voor Stadt en Land, Inv. 1931/114; Jacob Jordaens 1993 (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 92 f., Nr. A 19.
19 Holz, 125 x 95,7 cm, Mauritshuis, Den Haag, Inv. 937; Holz, 124 x 93 cm, Nationalmuseum Stockholm, Inv. 488; Katalog Den Haag 1993, S. 153-158, Nr. 17, mit Hinweis auf das Stockholmer Bild, Abb. 1.
20 Vgl. Die vier Evangelisten, Lw., 134 x 118 cm, Musée du Louvre, Paris, Inv. 1404; Katalog Paris 1979, S. 77.
21 Johann Gerhard Huck nach einer Zeichnung von Rulmann, Schabkunst, 440 x 302 mm. Unterschrift P. P. Rubens pinxit. / Rulmann del. / J. Gerh. Huck Sculps. / Abraham auf Moria / Dem Herrn George Oelrichs. UID Stadtrichter in Bremen, in Dessen / Cabinet sich das Originalgemaelde befindet. Unterthaenigst gewidmet von J. G. Huck. / Herausgegeben in
Hannover 1804. Kupferstichkabinett, Hamburger Kunsthalle,
Inv. 14976.

Lit.: Catalogue de la collection choisie de tableaux [...] de Feu Mr. George Oelrichs ci-devant Senateur de la ville de Bremen, Bremen 1811, S. 56, Nr. 226 (als Rubens); Handschriftliches Verzeichnis der Slg. G. E. Harzen um 1860, Heft 2, Nr. 275 (als Caspar de Crayer, korrigiert Jordaens); Verzeichnis 1869, S. 31 (als Jordaens); Max Rooses, Jordaens' Leben und Werke, Stuttgart u. a. 1906, S. 30; Lichtwark 1912, S. 17, Nr. 10; Katalog 1918, S. 79 f.; Katalog 1921, S. 82 f.; Katalog 1930, S. 79; Leo van Puyvelde, Jordaens, Amsterdam u. a. 1953, S. 84, 195, Abb. 58; Roger-Adolf d'Hulst, De tekeningen van Jakob Jordaens, Brüssel 1956, S. 86, Anm. 1; Katalog 1956, S. 83 f.; Katalog 1966, S. 18; Jacob Jordaens 1593-1678, bearb. v. Michael Jaffé, Ausst. Kat. National Gallery of Canada, Ottawa 1968/69, S. 84; Meisterwerke 1969, Abb. 67; Roger-Adolf d'Hulst, Jacob Jordaens, Stuttgart 1982, S. 114, 360; Meisterwerke 1994, S. 51, Abb., S. 226.

Details zu diesem Werk

Eichenholz 70.5cm x 54.5cm (Bild) 88.5cm x 72.5cm (Rahmen) Vermächtnis Georg Ernst Harzen, 1863 Inv. Nr.: HK-82 Sammlung: Alte Meister © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford

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