Peter Paul Rubens

Himmelfahrt Mariens, um 1616

Ölskizze für das Altargemälde der Brüsseler Kapellekerk (Nôtre Dame de la Chapelle)

Rubens schuf die Hamburger Ölskizze als Vorbereitung einer großformatigen Holztafel für den Hochaltar der Brüsseler Kathedrale Notre-Dame de la Chapelle, die Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz 1711 für seine Gemäldesammlung in Düsseldorf erwarb. Die Assumptio Mariae zählte zu den beliebtesten Bildthemen in den südlichen Niederlanden zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Die große Nachfrage gründete zum einen auf der Zerstörung vieler Bildwerke während der calvinistischen Bilderstürme 1566, zum anderen hing sie mit der Reaktion der katholischen Kirche auf die Reformation zusammen. Die vorrangige Aufgabe der religiösen Kunst war nun die Übermittlung von Glaubenswahrheiten an die Gläubigen. Maria wurde dabei als Mutter Jesu zur Vermittlerin zwischen den Gläubigen und Gott. Engel begleiten sie triumphal auf einer Wolke zum Himmel, während die Apostel am Grab staunend in den leeren Sarkophag blicken, in dem sie das Leichentuch und duftende Rosen vorfinden. Zwischen 1611 und 1637 entstanden in Rubens’ Werkstatt zahlreiche Versionen des Sujets.

Sandra Pisot
Maria wird von einer Schar von Engeln auf einer Wolke zum Himmel geleitet. Die um das Grab stehenden Jünger schauen ehrfurchtsvoll zu ihr empor oder blicken staunend in den leeren Sarkophag. Die mittlere der drei Marien hält in ihrer rechten Hand das Leichentuch, mit der Linken ergreift sie einige Rosen, die anstelle des auferstandenen Leibes im Grab liegen. Eine Quelle für die Himmelfahrt Mariens ist Jacobus de Voragines Legenda Aurea.1
Rubens' große Himmelfahrt Mariens, 1618 auf dem Hochaltar der Kapellekerk (Nôtre Dame de la Chapelle) in Brüssel aufgestellt, folgt der gleichen Komposition. Der Auftrag für das Altarwerk erging 1616/17. Das Gemälde wurde 1711 an den Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz verkauft und nach Düsseldorf gebracht, wo es sich noch heute befindet.2 Held hielt Inv. 763 für Rubens' eigenhändige Vorstudie (modello), ihm folgte Jaffé. Freedberg hingegen sah in der Ölskizze eine Kopie nach dem Altargemälde und führte eine zweite, im Format kleinere Ölskizze an, die möglicherweise das modello war.3
Rubens' Ölskizzen, damals disegni coloriti oder schetse genannt,4 waren zumeist der Entwurf für größere Gemälde gewesen. Sie wurden den Auftraggebern zur Beurteilung vorgelegt und dienten dann der Werkstatt als Vorlage für die Ausführung. Gegen Freedbergs Annahme spricht der für Rubens typische Aufbau des Bildes: Auf einer Kreidegrundierung ist die ockerfarbige Imprimitur streifig aufgetragen; in lasierenden Brauntönen wurde die Komposition mit dem Pinsel ohne erkennbare Vorzeichnung angelegt.5 Nach Held sprechen vor allem Pentimenti (der Cherubskopf unterhalb von Marias Gewand liegt auf dem dunklen Wolkenband auf) und Abweichungen von der großen Fassung für die Originalität des Entwurfs. Auf der Skizze hält der Apostel links seine Hände gekreuzt vor der Brust, die Hand darunter gehört zu dem älteren, sich herabbeugenden Apostel; auf dem Gemälde greift jener dagegen mit beiden Händen nach dem Leichentuch, was auch die Vorzeichnung für den Kupferstich von 1624 nach dem Altarbild zu erkennen gibt.6 Anstelle der erhobenen Hände eines weiteren Apostels am linken Rand darüber sind auf dem Gemälde die Köpfe zweier Apostel hinzugefügt worden. Die Lage des Buches am Boden vor dem Sarkophag wurde verändert, ebenso die Armhaltung einzelner Putti oder der Abstand zwischen Maria und dem Engel mit dem Blumenkranz rechts. Auch die Farbigkeit der Gewänder ist eine andere.
Freedberg führte diese Unterschiede auf Mißverständnisse des Kopisten zurück; der skizzenhafte Charakter von Inv. 763 sei dadurch bedingt, daß der Kopist die Studie einfach nicht vollendet habe. Zu Recht weist er auf die mitunter ungeschickt wirkende Ausführung (»untidy treatment«) von Marias Gewand, die groben Hände und die schematisch gemalten Flügel der Putti hin. Im Vergleich mit anderen Ölskizzen gleichen Motivs in St. Petersburg (um 1611)7, London (um 1613/14)8 und Den Haag (um 1622)9 fällt auf, wie uneinheitlich Inv. 763 ausgeführt ist. Die Gewänder der Apostel vorn sind in mehreren Farbschichten deckend gemalt, Marias Mantel dagegen in dünn lasierenden Farben. Auch die Gesichter und die Hände sind verschieden sorgfältig modelliert. Auf den anderen Ölskizzen sind die schwebenden Putti fester umrissen, ihre Körper plastisch geformt. Trotz der genannten Vorbehalte ist eine Entstehung von Inv. 763 in Rubens' Werkstatt anzunehmen; die Ausführung wird dabei wie bei dem Altargemälde in Düsseldorf in manchen Partien von Schülern stammen. So erinnert die Figur des knienden Apostels an Studien des jungen Van Dyck.
Die Komposition, 1616/17 entstanden, fügt sich in die Abfolge der seit etwa 1611 gemalten Himmelfahrten Mariens ein.10 Der jugendliche Apostel etwa, der angesichts des blendenden Lichts seine Hand schützend vor das Gesicht hält, begegnet bereits auf den frühen Ölskizzen in St. Petersburg und London. Die beiden Apostelköpfe rechts lassen sich auf der Himmelfahrt in Brüssel um 1614 nachweisen, ebenso das Motiv des seine Arme ausstreckenden Apostels. Die Figur des knienden Apostels griff Rubens auf einer späteren Himmelfahrt für die Heilig-Kreuz-Kirche in Augsburg wieder auf.11 Die Gruppe der drei Putti links von Maria findet sich leicht variiert auf dem Gemälde Die Krönung der Maria in Brüssel.12 Die Ölskizze in Den Haag zeigt im Hintergrund rechts ein ähnliches Steingrab. Im Vergleich zu den frühen Entwürfen ist auf Inv. 763 der Abstand zwischen Maria und den Aposteln verringert.
Rubens sah in Italien Tizians Himmelfahrt Mariens in der Frari-Kirche in Venedig, aber auch Darstellungen gleichen Themas von Annibale Carracci, Frederico Barocci oder Guido Reni, die ihn in seiner Formfindung beeinflußt haben. Die danach in Antwerpen in Auftrag gegebenen Himmelfahrten Mariens zeugen von der großen Bedeutung, die das Thema in den südlichen Niederlanden für die Glorifizierung der Gottesmutter besessen hat.

Thomas Ketelsen 2001

1 Vgl. Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, übers. v.
R. Benz, 13. Aufl., Gütersloh 1999, S. 448-468. David Freedberg weist zudem auf Hieronymus Nadals illustrierte Adnotationes et Meditationes in Evangelia (Erstdruck 1595) als mögliche zeitgenössische Quelle hin; s. Freedberg 1984, S. 139.
2 Eichenholz, 423 x 281 cm, Kunstmuseum Düsseldorf,
Inv. 2309; Freedberg 1984, S. 163-168, Nr. 41, Abb. 105;
Führer durch die Sammlungen 1. Alte Kunst, 19. Jahrhundert, Kunstmuseum Düsseldorf 1985, S. 97 f., Nr. 169. Anstelle von Rubens' Altargemälde wurde eine Kopie von P. van der Borcht aufgestellt, die 1870 in die Kirche Sint-Joost-ten-Node bei Brüssel gelangte, s. F. Baudouin, Altars and Altarpieces before 1620, in: Rubens before 1620, hrsg. v. J. Rupert Martin, Princeton
(N. J.), 1972, S. 80-82, Abb. 38.
3 Lw., 94 x 68,5 cm, Verst. Slg. Wynand Coole, Rotterdam (Constant), 6. 8. 1782, Los D; Freedberg 1984, S. 168, Anm. 19; verworfen wurde jedoch die Hypothese, Inv. 763 sei eine Wiederholung des heute verschollenen modello.
4 Vgl. G. Martin, Rubens' »Dissegno Colorito« for Bishop
Maes reconsidered, in: Burlington Magazine 110, 1968,
S. 434-437.
5 Zur Maltechnik s. H. v. Sonnenburg, Rubens' Bildaufbau und Technik. I. Bildträger, Grundierung und Vorskizzierung, in: ders., F. Preußer, Rubens. Gesammelte Aufsätze zur Technik,
2. Aufl., München 1980, S. 3-26, bes. S. 20 ff.
6 Schwarze Kreide mit Weißhöhungen, überarbeitet mit Pinsel und Feder, 654 x 427 mm, J. Paul Getty Museum, Los Angeles, Inv. 98.GG.14; Verst. London (Sotheby's), 2. 7. 1997, Nr. 54;
A.-M. Logan, Rubens' Design for Pontius' Engraving of the Assumption of the Virgin, in: Master Drawings 37, 1999,
S. 231-237, ohne Hinweis auf Inv. 763.
7 Lw. (urspr. auf Holz), 106 x 78 cm, Eremitage, St. Petersburg, Inv. 1703; Held 1980, Bd. 1, S. 509 f., Nr. 374, Bd. 2, Abb. 365; Freedberg 1984, S. 190-194, Nr. 46, Abb. 129; Peter Paul Rubens. Paintings from Soviet Museums, bearb. v. M. Varshavskaya u. a., Leningrad 1989, S. 34-38, Abb. 4-7.
8 Holz, 101,9 x 66 cm, The Queen's Gallery, Buckingham Palace, London, Inv. 108; Held 1980, Bd. 1, S. 510-512, Nr. 375, Bd. 2, Abb. 366; Freedberg 1984, S. 144-146, Nr. 35, Abb. 85; Tresures from the Royal Collection, Ausst. Kat. The Queen's Gallery, Buckingham Palace, London 1988, S. 36 f., Nr. 22.
9 Holz, 87,8 x 59,1 cm, Mauritshuis, Den Haag, Inv. 926; Held 1980, S. 513 f., Nr. 377, Abb. 366; Freedberg 1980, S. 178-180, Nr. 43a; Katalog Den Haag 1993, S. 298-305, Nr. 36 (späterer Entwurf für das 1626 vollendete Altarblatt für die Kathedrale in Antwerpen).
10 Zur zeitlichen Abfolge der Himmelfahrten Mariens in
St. Petersburg, Wien, London, Brüssel, Hamburg, Düsseldorf, Antwerpen, s. C. van de Velde, Rubens' Hemelvaart van Maria
in de Kathedral te Antwerpen, in: Jaarboek van het Koninklijk Museum voor Schone Kunsten Antwerpen 1975, S. 245-277; Glen 1977, S. 143-159; Peter Paul Rubens 1577-1640, bearb.
v. W. Prohaska u. a., Ausst. Kat. Kunsthistorisches Museum, Wien 1977, S. 66-72, Nr. 16 (zur Himmelfahrt Mariens in
Wien); Freedberg 1984, S. 144 f., 149 f., 158 f., 167, 174-176, 191-193.
11 Lw., 367 x 230 cm, Heilig-Kreuz-Kirche, Augsburg; Freedberg 1984, S. 169-171, Nr. 42, Abb. 112; Peter Paul Rubens. Altäre für Bayern, bearb. v. K. Renger, Ausst. Kat. Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek, München 1990,
S. 10 f., Abb. 5.
12 Lw. (urspr. auf Holz), 415 x 257 cm, Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel, Inv. 162; Freedberg 1984,
S. 195-198, Nr. 47, Abb. 130.

Lit.: Max Rooses, Rubens' Leben und Werke, Stuttgart u. a. [1890], S. 232; ders., L'Œuvre de Rubens, Addenda et Corrigenda, in: Rubens-Bulletijn 5, 1910, S. 295, Nr. 358; H. Hymans, Correspondance de Belgique, Chronique des Arts 1902, Nr. 24, S. 191; Rudolf Oldenbourg, P. P. Rubens. Des Meisters Gemälde, Stuttgart/Berlin 1921, S. 462, zu S. 193; Gustav Pauli, Die Sammlung Wedells in Hamburg, in: Pantheon 19, 1937, S. 138; Katalog 1956, S. 127; Meisterwerke 1958, S. 33, Nr. 23, Taf. 21; Katalog 1966, S. 133; Meisterwerke 1969, Abb. 64; T. L. Glen, Rubens and the Counter Reformation. Studies in his Religious Paintings between 1609 and 1620, London/New York 1977, S. 155 f., 261, unter Nr. E.1, Abb. 82; Julius S. Held, The Oil Sketches of Peter Paul Rubens, 2 Bde., Princeton (N. J.) 1980, Bd. 1, S. 512 f., Nr. 376, Bd. 2, Abb. 367; David Freedberg, Rubens. The Life of Christ after the Passion, Oxford 1984 (Corpus Rubenianum, 7), S. 163 f., 167, unter Nr. 41; Michael Jaffé, Rubens. Catalogo completo, Mailand 1989, S. 246, Nr. 522; Thomas Sello, Rainer Müller, Nicht nur mit Pinsel und Öl. 99 Maler der Hamburger Kunsthalle und ihre Techniken, Hamburg 1993, S. 68-72; Meisterwerke 1994, S. 52, Abb., S. 226; Frans Baudouin, Concept, Design and Execution. The Intervention of the Patron, in: Concept, Design & Execution in Flemish Painting (1550-1700), hrsg. v. Hans Vlieghe u. a., Turnhout 2000, S. 21 f., Abb. 28.

Details zu diesem Werk

ÖL auf Eichenholz 106cm x 74.5cm (Bild) 140cm x 110cm (Rahmen) Treuhandvermögen der Freien und Hansestadt Hamburg, vormals Stiftung Siegfried Wedells Inv. Nr.: HK-763 Sammlung: Alte Meister © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford

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