Johann Heinrich Wilhelm Tischbein
Der Enterich als Zeuge des mörderischen Anschlags von Reineke Fuchs auf die Gänse, um 1810
Rechts und links eines mit Efeu umrankten Baumes brechen in Inv. 577 Füchse aus dem Schilf am Teichrand hervor und nähern sich dem Gänserich und seinem vielköpfigen Nachwuchs.
Die frühere Einordnung der Darstellung in Goethes Reineke Fuchs, erstmals 1794 erschienen, wurde zuerst von Sörrensen vorgeschlagen und später von Roskamp wieder aufgenommen.2 Der dabei genannte vierte Gesang muss jedoch als literarische Vorlage ausgeschlossen werden. Mildenberger konnte das Bildthema als den Überfall der Füchse auf die Familie des Ganters Zarthold identifizieren, die Tischbein im vierten Gesang seiner Gänsegeschichte schildert.3 Diese vermutlich ab 1803 entstandene, 1811 von einer Eutiner Freundin des Künstlers, Henriette Hermes, in Hexametern umgesetzte Fabel ist ein Gegenentwurf zum Reineke Fuchs, in dem die Füchse gerade an ihrer übergroßen Schläue scheitern.4 Die 1812 geplante Veröffentlichung durch den Tübinger Verleger Johann Friedrich Cotta im Morgenblatt für gebildete Stände unterblieb durch die Wirren der Napoleonischen Kriege.
In Inv. 578 werden am Ufer eines Teichs der Enterich und eine Graugans von einem Fuchs überrascht und versuchen aufgeregt zu fliehen. Wie Inv. 577 entstammt auch diese Darstellung nicht, wie bisher angenommen, dem vierten Gesang von Goethes Reineke Fuchs, sondern Tischbeins eigener, ab 1803 in Hamburg und Eutin konzipierten Gänsefabel. Mildenberger konnte das Geschehen in den siebten Gesang dieser Gänsegeschichte einordnen, in dem der Enterich den in Inv. 577 dargestellten Überfall als Zeuge noch einmal beschreibt.5
Eine mit Inv. 577 gleichformatige, aquarellierte Zeichnung Tischbeins wurde 2003 in New York versteigert; sie weist lediglich im Hintergrund leichte Abweichungen auf.6 Etwas größere Unterschiede ergeben sich zu einer von den Weimarer Kunstsammlungen in der gleichen Auktion erworbenen Darstellung der Szene.7 Dort erwarb man 2003 auch eine querformatige und in den meisten Details jedoch von Inv. 578 abweichende Zeichnung der gleichen Szene.8 G. W.
1 Der Hamburger Architekt war Anfang oder Mitte der 1810er Jahre Schüler Tischbeins in Eutin gewesen; seine Eltern nannte Tischbein in einem undatierten, nicht eigenhändigen Briefentwurf »alte Bekannte« (s. E. Schlee, Der Maler Oluf Braren 1787-1839, Husum 1986, S. 69). Aus seinem Besitz stammen auch Inv. 578-580.
2 Siehe Sörrensen 1910, S. 84 f., danach erstmals wieder
D. Roskamp im Katalog 1956, S. 158 f.
3 Die Gänse, eine Fabel in zwölf Gesängen nach Tischbeinschen Ideen und Zeichnungen, Ms. v. H. Hermes, dat. 1811, Landesmuseum Oldenburg, S. 40-43, in: Mildenberger 2004,
S. 211 f.
4 Vgl. ebd., S. 24-38.
5 Vgl. ebd., S. 224.
6 Kreide, Feder und Aquarell, 47,8 x 36,7 cm; Verst. New York (Christie’s), 22. 1. 2003, Nr. 177, Farbabb.
7 Kreide, Feder und Aquarell, 55,0 x 43,0 cm, Klassik Stiftung Weimar, Inv. KK 12105; ebd., Nr. 165, Farbabb., s. auch Mildenberger 2004, Farbabb. S. 211.
8 Kreide, Feder und Aquarell, weiß gehöht, 29,4 x 40,8 cm, Klassik Stiftung Weimar, Inv. KK 12159; Verst. New York (Christie’s), 22. 1. 2003, Nr. 218, Farbabb., s. auch Mildenberger 2004, Farbabb. S. 222.
AUSST.: Einführung 1905, S. 92, Nr. 495 (Inv. 577) und Nr. 496 (Inv. 578); Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775-1875, 2 Bde., Nationalgalerie, Berlin 1906, Bd. 2, S. 558, Nr. 1794, Abb.
LIT.: Franz Landsberger, Wilhelm Tischbein. Ein Künstlerleben des 18. Jahrhunderts, Phil. Diss. Breslau, Leipzig 1908, S. 207, Nr. 238, Nr. 239; Wolfgang Sörrensen, Joh. Heinr. Wilhelm Tischbein. Sein Leben und seine Kunst, Berlin/Stuttgart 1910, S. 85; Katalog 1918, S. 172 f.; Katalog 1921, S. 179; Katalog 1930, S. 169; Katalog 1956, S. 158 f.; Katalog 1966, S. 165; Johann Wolfgang von Goethe, Reineke Fuchs. Mit Aquarellen und Auszügen aus der »Gänsegeschichte« von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, hrsg. v. Hermann Mildenberger, Frankfurt a. M./Leipzig 2004,
S. 224 (Inv. 578).