Anita Rée
Halbakt vor Feigenkaktus, 1922-1925
Da Künstlerinnen in Deutschland bis 1919 eine akademische Ausbildung verwehrt war, hatte auch die Hamburgerin Anita Rée seit 1905 Unterricht an einer privaten Malschule genommen. Im Winter 1912/13 setzte sie ihre Studien in Paris fort, wo sie zahlreiche Museen und Galerien besuchte und sich vor allem für die Malerei Paul Cézannes begeisterte. Zurück in ihrer Heimatstadt etablierte sie sich erfolgreich als freie Künstlerin, wurde 1919 Gründungsmitglied der Hamburgischen Sezession und vernetzte sich mit anderen Künstlern und Künstlerinnen.
Von 1922 an lebte Rée in Positano an der italienischen Amalfiküste. Sie hielt sich nicht als einzige Deutsche in Italien auf, gerade Positano war in den 1920er-Jahren zu einem beliebten Treffpunkt für Schriftsteller*innen und für Maler*innen der Neuen Sachlichkeit geworden. Nach dem Ersten Weltkrieg, den noch das Pathos des Expressionismus begleitet hatte, suchte man jetzt eine klare, nüchterne Bildsprache und orientierte sich dabei auch an der italienischen Frührenaissance. Wie zuvor die Alten Meister strebten die Modernen detailreiche Darstellungen, ausgewogene Kompositionen und plastische Figuren vor flächigen Gründen an.
Wie von Wärme und Sonne durchflutet wirkt eine Figurendarstellung der Zeit: "Halbakt vor Feigenkaktus". Zwei vorbereitende Arbeiten zu diesem ungewöhnlichen Werk zeigen, mit wie viel Überlegung und Präzision die Künstlerin ihre Motive entwickelte. Auf einem Papier großen Formats legte sie die Figur bereits vollplastisch mit Kohle an; in einer kolorierten Bleistift- und Tuschzeichnung erprobte sie dann deren Zusammenspiel mit einer üppig wuchernden Pflanze im Hintergrund (Vgl. Halbakt (selbst?) vor Feigenkaktus, 1922-1925, Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 1962-53).1 Vermutlich hatte Rée für ihre Darstellung kein Modell, sondern schuf sich als Malerin ein weibliches Ideal, das Harmonie, Grazie und Sinnlichkeit in sich vereinen sollte. Obwohl das auffällige Präsentieren der Brüste auf Erotik und Sexualität verweist, scheint der von Kaktusfeigen umfangene junge Körper wie selbstverständlich eingebettet in eine fruchtbare Natur.
Nachdem Anita Rée Ende 1925 in die Hansestadt zurückgekehrt war, stellte sie gleich im Januar 1926 ihre »Bilder aus Positano« in der Galerie Commeter aus. Sie wurden begeistert aufgenommen und gingen in private und öffentliche Sammlungen ein.
Karin Schick
1 Vgl. Maike Bruhns mit Karin Schick und Sophia Colditz, Anita Rée. Das Werk, hrsg. v. d. Hamburger Kunsthalle, gefördert durch die Hermann Reemtsma Stiftung, München 2018, Nrn. Z 169, Z 170.