
Richard Oelze
Orakel, 1955
Das lateinische Wort oraculum bedeutet Götterspruch, es meint aber auch die Stätte, an der die Prophezeiung empfangen wird. Solch einen tempelartigen Ort ruft Richard Oelze hervor: Von schwefligem Wolkengelb verhangen, entfaltet sich ein gestaffeltes Gespinst aus Säulen, Sockeln, Felsen, Gewächsen und Figuren in die Tiefe des Raums. Dort scheint der Dunst ins Azurblau aufzureißen – ist das Orakel nur Illusion, lohnt ein Warten auf die Zukunft? Der Lithograph Oelze hatte am Bauhaus studiert, die Schweiz und Italien bereist und sich dann in Paris mit dem Surrealismus vertraut gemacht. Unterbrochen nur von Kriegsdienst und Gefangenschaft, entwickelte er von nun an seine eigene surreale Bildwelt: Dem Innersten wollte er äußere Form geben, Urbilder sichtbar machen. Akribisch erarbeitete er seine figurativen Zeichnungen und Gemälde mit kleinsten Strichen und in zahlreichen Schichten, seine Werktitel umkreiste er in lyrischen Wortreihen. Zurückgezogen auf dem Land lebend, verwob Oelze Mensch, Natur und Sprache zu eindringlichen Visionen.
Karin Schick