Alberto Giacometti
Annette im Atelier, 1961
Die Frau, die Giacometti in seinem Atelier im Pariser Künstlerviertel Montparnasse frontal gegenübersitzt, ist Annette Arm, die er 1949 geheiratet hatte. Sie und sein Bruder Diego waren ihm am häufigsten Modell für seine existenzialistischen Untersuchungen zur Darstellbarkeit des Allgemein-Menschlichen. Gern war Annette ihm regungslose Partnerin mit nie abbrechendem, intensivem Blickkontakt. In dieser Grisaille wirkt sie wie eine seiner Skulpturen. Was Giacomettis Hände sonst in der Tonmasse plastisch modellierten, setzte er hier mit raschen Pinselzügen auf die Leinwand. Jeder Strich war eine Annäherung an sein Gegenüber. Während der Umraum nur lose skizziert und als Existenzrahmen definiert ist, verdichtet sich Annettes Erscheinung in der intensiven Behandlung ihres Gesichts. Doch trotz der Intimität ihrer Beziehung und Giacomettis Bemühen, ihr Wesen zu erfassen, umhüllt Annette eine melancholische Äußerlichkeit. Der Malprozess erscheint wie ein perpetuum mobile aus Begegnung, Annäherung und Verlassen. Giacometti hielt die Vergeblichkeit des Erfassens von Wirklichkeit fest: Der Mensch bleibt für ihn ein Unbekanntes.
Dagmar Lott-Reschke