Pieter Jansz. Saenredam

Die Mariakerk in Utrecht, 1638

Die Architekturmalerei etablierte sich erst im 17. Jahrhundert als eigenständige Gattung. Der Haarlemer Saenredam war einer der Ersten, der sich auf die Darstellung realer Kirchen verlegte: Seine Spezialität wurde die klare, schlichte Leere der in den Bilderstürmen von 1566 und 1581 bereinigten Kirchenräume. 1636 fertigte er insgesamt 14 Zeichnungen der Mariakerk in Utrecht und vermaß ihre architektonischen Elemente. Eine Studie für das Hamburger Gemälde datiert auf den 18. Juni 1636. Im Atelier übertrug Saenredam das Motiv auf ein gerastertes Blatt im Format des späteren Gemäldes. Die Regeln der Zentralperspektive befolgend – beim Hamburger Gemälde liegt der Fluchtpunkt unterhalb des rechten Fensters der Westfassade – bereinigte er optische Verzerrungen, die sich bei der Zeichnung vor Ort ergaben. Saenredam verwandelte so Raumwahrnehmung in Malerei und schuf in seinen Gemälden hochartifizielle Konstrukte, mit denen er sich seiner Käuferschaft als technisch wie wissenschaftlich versierter Künstler empfahl.

Neela Struck
Blick durch das Langhaus der Mariakerk zur Orgelempore und zur Fensterrose im Westen; rechts öffnet sich das nördliche Seitenschiff zum Querhaus. Der Bau des Langhauses dieser dreischiffigen Emporenbasilika wurde nach 1150 begonnen, zu den Vorbildern zählt etwa San Ambrogio in Mailand.2 Hervorzuheben sind der Wechsel von Säulen und Bündelpfeilern mit vorgelagerten Pilastern und Halbsäulen, auf denen die Gurtbögen und Rippen des Gewölbes ruhen, ferner die Empore mit Balustrade. Im dritten Hauptjoch fehlt die Zwischenstütze der Emporen, wodurch ein tonnengewölbtes Scheinquerschiff entsteht. Die Orgel wurde 1482-1484 von Gerrit Pietersz gebaut.3 Die Kirche ist nicht mehr erhalten, 1813-1816 wurde das Langhaus abgebrochen, 1844 der Chor.
Die Inschrift Origo fundati templi [...]4 auf den Vierungspfeilern erzählt in Hexametern die Gründungslegende der Kirche. Danach hatten die Truppen Heinrichs IV. bei der Eroberung Mailands eine der Muttergottes geweihte Kirche zerstört. Als Zeichen der Reue ließ der Kaiser den Utrechter Bischof Konrad die Mariakerk erbauen. Für die Sicherung der Fundamente wurde der Baumeister Friso zu Rate gezogen, der sich jedoch mit dem Bischof überwarf. Sein Sohn verriet das Baugeheimnis dem Bischof, der daraufhin von dem Architekten ermordet wurde. Auf die Sicherung der Fundamente weist am vorletzten Pfeiler rechts ein nur angedeutetes Relief mit einem Stier hin. Eine dazugehörige Inschrift besagt, daß dafür Stierfelle verwendet wurden.5
Am nördlichen Vierungspfeiler hängt das Totenschild der Cornelia van Pallaes, geb. Buth, die am 5. November 1632 in der Mariakerk begraben wurde;6 auf dem Rahmen die Inschrift: OBYT XXIX. OCTOB. ANO 1632. Im südlichen Seitenschiff ist ein weiteres Totenschild zu erkennen, kleinere Familienwappen hängen an den Pilastern des Langhauses in Höhe der Balustrade. In den Fußboden sind eine Vielzahl von Grabplatten eingelassen.
Eine datierte und signierte Federzeichnung erfaßt das Langhaus der Kirche vom gleichen Standpunkt aus; eine Inschrift auf dem Blatt besagt: »De Ste Marijenkerck, binnen uijtrecht; Pieter Saenredam dit voleijndt met teijckenen den 18en Junij. Ao. 1636«.7 Das aquarellierte Blatt gehört zu einer Gruppe von Zeichnungen, die Saenredam 1636 in Utrecht während eines Aufenthaltes von Juni bis Oktober von den Stadtkirchen angefertigt hat. Von der Mariakerk sind insgesamt vierzehn Zeichnungen bekannt, elf geben den Innenraum von verschiedenen Standpunkten aus wieder, drei zeigen die Kirche von außen;8 mindestens neun Zeichnungen dienten als Vorlagen für Gemälde, die zwischen 1637 und 1651 entstanden sind. Zur Übertragung der Kompositionen fertigte Saenredam gewöhnlich Konstruktionszeichnungen an, um optische Verzerrungen zu korrigieren. Eine entsprechende Zeichnung für Inv. 412 ist nicht erhalten.
Inv. 412 entstand zwei Jahre nach Saenredams Aufenthalt in Utrecht.9 Den auf der Zeichnung unter dem rechten Westwerkfenster markierten Fluchtpunkt behielt er bei. Im Gemälde ist der Ausschnitt jedoch nach rechts vergrößert und die linke Langhauswand mit Obergadenfenster vollständig wiedergegeben. Durch das in starker Untersicht gegebene vordere Joch und die steil nach oben gezogenen Rippen gewinnt das Mittelschiff an Höhe und Tiefe, die Vierungspfeiler an Monumentalität; die Fensterrose erscheint klarer, die Orgel vielgliedriger und die Emporenbrüstung niedriger.
Von der Ausstattung, die die Zeichnung festhält, wurde nur das Totenschild und der leere Sockel mit seinem Baldachin am linken Vierungspfeiler übernommen. Alle weiteren Baldachine wurden wie die Zugstangen weggelassen. Für die gemalten Brokatstoffe an den Vierungspfeilern, die in der Zeichnung mit gelber Wasserfarbe angedeutet sind, verwendete Saenredam Blattgold. Die Ornamente sind mit Farbe aufgetragen, einzelne Muster eingeritzt. Ähnlich effektvoll sind die Brokatmuster auf einer 1641 datierten Ansicht des Langhauses der Mariakerk zu sehen, die den Blick auf den Chor richtet.10
Die Figuren wurden zuletzt in die Architektur eingefügt. Die im Durchgang zum Seitenschiff stehenden Männer ähneln denen auf dem Gemälde von 1641, die Gudlaugsson dem Maler Pieter Post zugeschrieben hat.11 Gleiches gilt für die am Vierungspfeiler sitzende Frau. Die übrigen Figuren stammen vermutlich von Saenredam selbst.
Nach den Bilderstürmen 1566 und 1581 und dem Verbot des katholischen Gottesdienstes 1585 in Utrecht wurde die Mariakerk unabhängig von der calvinistischen Stadtregierung von einem Kapitel verwaltet. Schwartz und Bok vermuten, Saenredams Ansichten dienten der Verewigung des Kirchengründers Heinrich IV. Das Totenschild der Cornelia van Pallaes verweist möglicherweise auf die Familie des Auftraggebers.12
Über die Provenienz von Inv. 412 liegen bis 1845 keine sicheren Belege vor.13 Ungewiß ist, seit wann sich das Gemälde im Besitz der Grafen von Schönborn befand. 1738 gelangte mit Hilfe des Kunsthändlers Anthonie Rutgers ein weiteres Kirchenbild Saenredams in die Sammlung Schönborn.14

Thomas Ketelsen 2001

1 Schwartz/Bok 1990.
2 Gall 1923, S. 39 f.; Haverkate/Van der Peet 1985, S. 13-50.
Der Katalog der Pommersfeldener Galerie von 1845, S. 33, beschreibt das Gemälde noch als »innere Ansicht des berühmten Mailänder Doms«.
3 Jan van Biezen, Het Nederlandse Orgel in de Renaissance en de Barok, 2 Bde., Utrecht 1995, Bd. 1, S. 59-63, Abb. S. 63.
4 Schwartz/Bok 1990, S. 147, nennen als möglichen Verfasser der Inschrift den Dekan des Kapitels der Mariakerk, Lambertus van der Burch (1542-1617), oder seinen Bruder Adrianus.
5 Die Inschrift lautet: accipe posteritas quod per tua [secula narres], taurinis cutibus fondo solidata; s. Schwartz 1966/67, S. 69-93; Haverkate/Van der Peet 1985, S. 41, Abb. 6.
6 Freundl. Mitt. von Frau Tolien Wilmer, Utrecht, 10. 1. 1996.
7 364 x 505 mm, Gemeente Archiv, Utrecht; Saenredam/Bok 1990, S. 284, Nr. 159. Unter dem Totenschild am Vierungspfeiler ist die Gründungslegende nur mit den einleitenden Worten Post ubi zitiert.
8 Vgl. Schwartz/Bok 1990, S. 131-154, 281-285; darüber hinaus existieren mehrere Detailzeichnungen der Säulen mit genauen Maßangaben, ebd., S. 146, Abb. 162-166.
9 Im Schönbornschen Galerieführer 1845 wird die Bezeichnung mit Pr. Saenredam fecit a. 1638 angegeben; im Verst. Kat. Slg. Weber 1912 ist die Jahreszahl mit Ao 1638 verzeichnet. Bereits der Katalog 1930 nennt sie undeutlich.
10 Holz, 121,5 x 95 cm, Rijksmuseum, Amsterdam, Inv. A 851; F. Lammertse, Van schets tot schilderij. Naar aanleiding van infraroodreflectografisch onderzoek op twee schilderijen van Saenredam in het Rijksmuseum, in: Bulletin van het Rijksmuseum 35, 1987, S. 80-90, mit Hinweis auf Inv. 412, S. 89, Anm. 11; Schwartz/Bok 1990, S. 282, Nr. 149, S. 139, Abb. 151. Zu den Pfeilerdekorationen s. C. A. van Swigchem, Kerkborden en kolomschilderingen in de St. Bavo te Haarlem 1580-1585, in:
Bulletin van het Rijksmuseum 35, 1987, S. 211-223.
11 S. J. Gudlaugsson, Aanvullingen omtrent Pieter Post's werkzaamhedenp als schilder, in: Oud Holland 69, 1954, S. 68 f.
12 Die Vermutung von Schwartz/Bok 1990, S. 147, Saenredams Gemälde seien als Geschenke für Ferdinand III., der 1637 zum Kaiser gewählt wurde, vorgesehen gewesen, bleibt rein spekulativ.
13 Montias verweist auf ein Gemälde Saenredams in der Sammlung Van Baerle (1674), die Identifizierung bleibt jedoch ungewiß, s. J. M. Montias, Artists and Artisans in Delft, Ann Arbor 1991, S. 19.
14 Eichenholz, 40 x 49,8 cm, bez. A. 1637 / Saenredam. fecit, Staatliche Museen Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister, Inv. GK 427; Katalog Kassel 1996, Bd. 1, S. 269, Bd. 2, Taf. 193.

Ausst.: Rembrandt und seine Zeit, Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen 1949, Nr. 156; Holländer des 17. Jahrhunderts, Kunsthaus Zürich 1953, Nr. 187, Abb. 5; Pieter Jansz. Saenredam, Centraal Museum, Utrecht 1961,
S. 220-222, Nr. 158, Abb. 159; Luther und die Folgen für die Kunst, Hamburger Kunsthalle 1983, S. 358, Nr. 227, Abb., S. 78, Farbabb. 6; Holländische Kirchenbilder, Hamburger Kunsthalle 1995, S. 10-13, Nr. 1, S. 11, Farbabb.; Pieter Saenredam, het Utrechtse werk, Centraal Museum, Utrecht 2000, S. 118-121, Nr. 10.5, Abb.
Lit.: Joseph Heller, Die gräflich Schönborn'sche Gemälde-Sammlung zu Schloß Weißenstein in Pommersfelden, Bamberg 1845, S. 33; Katalog der Gräflich von Schönborn'schen Bilder-Gallerie zu Pommersfelden, Würzburg 1857, Nr. 247; Gustav Parthey, Deutscher Bildersaal, 2 Bde., Berlin 1863/64, Bd. 2, S. 470, Nr. 3; Julius von Pflugk-Harttung, Die Webersche Gemäldesammlung, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 8, 1885, S. 82; Alfred Woltmann, Karl Woermann, Geschichte der Malerei, 3 Bde., Leipzig 1879-1888, Bd. 3/2, S. 655; Woermann 1892, S. 161, Nr. 200; Woermann 1907, S. 193 f., Nr. 234 (152); Hans Jantzen, Das niederländische Architekturbild, Leipzig 1910, S. 83, 233, Nr. 409; Lichtwark 1912, S. 21, Nr. 31; Katalog 1918, S. 140; Katalog 1921, S. 145; Katalog 1930, S. 136; Ernst Gall, Die Marienkirche in Utrecht und Klosterneuburg, in: Jahrbuch für Kunstwissenschaft 1, 1923, S. 34, Abb. 3; P. T. A. Swillens, Pieter Janszoon Saenredam, schilder van Haarlem, Amsterdam 1935, S. 111, Nr. 148, Abb. 135; Katalog 1956, S. 131; Meisterwerke 1958, S. 33, Nr. 28, Taf. 25; Friedrich Wilhelm Heckmanns, Pieter Janszoon Saenredam. Das Problem seiner Raumform, Recklinghausen 1965, S. 33-36, Abb. 15; Katalog 1966, S. 137; Meisterwerke 1969, Abb. 94; Hans Jantzen, Das niederländische Architekturbild, 2. Aufl., Braunschweig 1979, S. 83, 233, Nr. 409; H. M. Haverkate, C. J. van der Peet, Een Kerk van Papier. De Geschiedenis van de voormalige Mariakerk te Utrecht, Utrecht 1985, S. 45, Abb. 9; James Elkins, Das Nüsslein beisset auf, ihr Künstler! Curvilinear Perspective in Seventeenth Century Dutch Art, in: Oud Holland 102, 1988, S. 265-267, Abb. 14; Gary Schwartz, Marten Jan Bok, Pieter Saenredam. The Painter and His Time, Den Haag 1990, S. 130, Abb. 141, S. 283 f., Nr. 158; Perspectives: Saenredam and the Architectural Painters of the 17th Century, bearb. v. J. Giltaij, Ausst. Kat. Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam 1991, S. 20, Abb. 2,
S. 23; Meisterwerke 1994, S. 42, Abb., S. 225; Jan Harasimowicz, Das Große Sterben der Kunst in den Ländern der siegreichen Reformation, in: ders., Kunst als Glaubensbekenntnis, Baden-Baden 1996, S. 5, 7, Abb. 3; Peter Kidson, The Mariakerk at Utrecht, Speyer, and Italy, in: Utrecht: Britain and the Continent. Archaeology, Art and Architecture, hrsg. v. Elisabeth de Bièvre, Leeds 1996 (The British Archaeological Association Conference Transactions, XVIII), S. 123-136, Abb. IX.

Details zu diesem Werk

Öl auf Eichenholz Hamburger Kunsthalle, Geschenk von Ernst Zeyn, 1912 Inv. Nr.: HK-412 Sammlung: Alte Meister © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford

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