Jan Provoost

Das Jüngste Gericht, nach 1505

Darstellungen vom Jenseits und der Hölle waren schon in der mittelalterlichen Kunst weit verbreitet und verfolgten zur Abschreckung der Gläubigen didaktische Absichten. Christus erscheint als Weltenrichter in einen blutroten Umhang gehüllt auf einem Regenbogen, der mit dem Strahlenkranz auf den Himmel als Ort seiner Wiederkehr verweist. Er wird zu beiden Seiten von Posaune spielenden Engeln flankiert, die die Lilie als Zeichen der Erwähltheit und das Schwert der Verdammnis halten. Die Himmelskönigin Maria links und Johannes der Täufer rechts halten Fürbitte bei Christus für die Menschen. Zu dessen Füßen sind auf einem Tisch die Weltkugel und das aufgeschlagene Buch des Lebens, aus dem ein Engel
die Taten der Verstorbenen verliest, aufgestellt. Die nackten Toten, darunter Gnome und Fabelwesen, erheben sich aus ihren Gräbern und treten vor den Erzengel Michael als Seelenwäger. Auf der linken Bildseite werden die Erwählten von Petrus durch die Pforte ins Paradies geleitet, während rechts die Verdammten ins Höllenfeuer gehen.

Sandra Pisot
Christus thront zwischen zwei posauneblasenden Engeln als Weltenrichter auf einem Regenbogen. Schwert und Lilie sind Zeichen der Strafe und der Erlösung. Das leicht geneigte Haupt
umfängt ein Strahlenglanz. Über den Wolken erscheinen oben links Maria gekrönt mit entblößter Brust und drei weitere Frauen, rechts Johannes der Täufer und Moses, ebenfalls als Halbfiguren. Das Motiv der entblößten Brust Marias, die ihren Sohn um Erbarmen mit den Sündern bittet, geht auf das Speculum humanae salvationis zurück.3 Auf einem Tisch zu Füßen Christi liegen die Weltkugel und das aufgeschlagene Buch des Lebens, von dem es bei Johannes heißt: »Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben steht, nach ihren Werken. [...] Und wen man nicht im Buch des Lebens aufgeschrieben fand, der wurde in den feurigen Pfuhl geworfen« (Apokalypse 20,11-20). Dem Engel links reicht eine entkleidete Frau ein Buch, der Engel rechts läßt aus einem Buch lose Zettel ins Fegefeuer fallen; ihm zu Füßen sitzt ein lesender Gnom (in Dominikanerkutte?), dem ein Fabelwesen über die Schulter schaut. Ein dritter Engel unterstützt einen jungen Mann bei der Übergabe seiner Schriftrolle. Rechts tragen Verdammte ein geschnürtes Paket in den Pfuhl, auf der gegenüberliegenden Seite wird den Seliggesprochenen der Zugang ins Paradies gewährt. Hinter der triumphalen Eingangspforte ist die Quelle des ewigen Lebens, die fons vitae, in Form eines Brunnens dargestellt.
Die Tafel wurde zuerst 1902 auf der Ausstellung in Brügge als Werk Provoosts erkannt; zuvor galt sie als Arbeit Jean Bellegambes, auf dessen Weltgerichtsaltar in Berlin Christus ebenfalls in den Wolken thront.4 Provoosts durch Quellen gesichertes Weltgericht für das Stadthaus in Brügge von 1525 bildete den Ausgangspunkt für die Rekonstruktion seines Werks.5 Zwei weitere Gerichtsbilder befinden sich in Detroit6 und Cambridge (Mass.)7. Friedländer bezeichnete Inv. 323 und das Detroiter Bild als stilistisch wenig abweichende Varianten des Bildes in Brügge aus der Zeit um 1525.8
Die dendrochronologischen Untersuchungen der vier Tafeln erlauben präzisere Aussagen über die Beziehung der Werke untereinander. So ist Inv. 323 frühestens 1506 entstanden, deutlich früher als das Gemälde in Detroit.9 Auch in der Konzeption und Komposition bestehen stärkere Übereinstimmungen zwischen den Gemälden in Brügge und Detroit als zwischen diesem und Inv. 323. So thront auf jenen Christus inmitten von Heiligen, die fürbittende Maria und Johannes sind hervorgehoben; deutlich ist die Himmelszone von dem weit in die Tiefe gehenden irdischen Bereich getrennt. Auf Inv. 323 hingegen versperrt der Tisch mit den beiden Engeln den Ausblick in die Landschaft. Das zentrale Motiv, das aufgeschlagene Buch des Lebens, fehlt auf den drei anderen Gerichtsbildern. Auch fehlt der Höllendarstellung die phantasmagorische Ausmalung, wie sie etwa auf dem Gemälde in Detroit mit dem weit geöffneten Schlund des Höllenwesens zu sehen ist.
Nicole Reynaud hat auf die stilistische Nähe von Inv. 323 zu Provoosts Christlicher Allegorie in Paris hingewiesen.10 Christus und Maria thronen dort auf einer Wolkenbank zu Seiten der wesentlich größeren Weltkugel, die im Zentrum der Komposition von der Hand Gottes gehalten wird. Darüber schwebt das Auge Gottes. Die Gesichtszüge von Christus und Maria stimmen auf beiden Bildern nahezu überein. Reynaud vermutet, beide Tafeln seien um 1520 entstanden, ein Datum, das aufgrund der Holzuntersuchung von Inv. 323 vermutlich etwas früher anzusetzen ist.
Der lesende Gnom ist nach Unverfehrt ein Beleg für die frühe Rezeption der Fabelwelt Hieronymus Boschs,11 der umgekehrte Trichter im Hintergrund mit den Fabelwesen ein direktes Zitat. Vorbilder für das in der Malerei selten dargestellte Motiv des Buches des Lebens sind in der Graphik nachzuweisen, so etwa auf einem Stich von Hans Leonhard Schäuffelein von 1511. Koerner weist auf die Kritik von Reformatoren an solchen Darstellungen des Jüngsten Gerichts hin.12 Harbison deutet die Geldstücke auf dem Tisch und die Zettel als Zeichen für den Ablaßhandel.13

Thomas Ketelsen 2001

1 R. Spronk, Jan Provost, in: Memling und seine Zeit. Brügge und die Renaissance, hrsg. v. M. P. J. Martens, Ausst. Kat. Memlingmuseum - Oud-Sint-Janshospitaal, Brügge 1998, S. 94-96.
2 Laut Woermann 1907, S. 79, aus Kassel durch O. Eisenmann erworben.
3 Vgl. C. Walker Bynum, Holy Feast and Holy Fast. The Religious Significance of Food to Medieval Woman, Berkeley u. a. 1988, S. 269-276, zu Provoost S. 272.
4 Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Inv. 641; Katalog Berlin 1996, S. 16, Abb. 599.
5 Holz, 145 x 169 cm, Groeningemuseum, Brügge, Inv. 0.117; Friedländer, Bd. 9b, 1973, S. 114, Nr. 156, Taf. 169; Catalogue des Tableaux du 15e et du 16e siècle, bearb. v. D. de Vos, Brügge 1982, S. 195-198, mit Hinweis auf Inv. 323, S. 197.
6 Holz, 58 x 60,8 cm, Institute of Art, Detroit, Inv. 89.35; Friedländer, Bd. 9b, 1973, S. 114, Nr. 158, Taf. 172.
7 Holz, 108 x 97 cm, Harvard Fogg Art Museum, Cambridge (Mass.), Inv. 16.1994; s. Spronk 1998, S. 68, Abb. 2.
8 Friedländer 1986, S. 124.
9 Die dendrochronologischen Untersuchungen (Dr. Peter Klein, Hamburg) ergaben eine Datierung für das Bild in Cambridge um 1503, für Inv. 323 um 1506 und für die Tafel in Detroit um 1514. S. Spronk 1998, S. 79, Anm. 17.
10 Holz, 50,5 x 40 cm, Musée du Louvre, Paris, Inv. R.F. 1973-44; Katalog Paris 1979, S. 108; Reynaud 1975, S. 8 f.
11 Unverfehrt 1980, S. 217.
12 Koerner 1993, S. 404.
13 Harbison 1976, S. 40 f., 115 f., 278, Nr. 69, Abb. 57.

Ausst.: Exposition des Primitifs flamands et d'Art ancien. Premier section. Tableaux, Gruuthusemuseum, Brügge 1902, S. 71, Nr. 168; Luther und die Folgen für die Kunst, Hamburger Kunsthalle 1983, S. 76, Abb. 4, S. 190, Nr. 64.
Lit.: Julius von Pflugk-Harttung, Die Weber'sche Gemäldesammlung, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 8, 1885, S. 88 (als Bellegambe); Woermann 1892, S. 65 (als Bellegambe); Henri Huysmans, L'exposition des Primitifs Flamands a Bruges, III., in: Gazette des Beaux-Arts 28, 1902/2, S. 301; Max J. Friedländer, Die Brügger Leihausstellung von 1902, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 26, 1903, S. 148; Woermann 1907, S. 79, Nr. 80 (557); Lichtwark 1912, S. 17, Nr. 11; Max J. Friedländer, Von van Eyck bis Bruegel. Studien zur Geschichte der niederländischen Malerei, Berlin 1916, S. 119; Katalog 1918, S. 127; Katalog 1921, S. 132; Katalog 1930, S. 123; Friedländer, Bd. 9/2, 1934, S. 114, Nr. 158, Taf. 172; Katalog 1956,
S. 121; Simone Speth-Holterhoff, Trois Panneaux de Jean Provost, in: Bulletin des Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique 14, 1965, S. 22 f., Abb. 6; Katalog 1966, S. 126; Meisterwerke 1969, Abb. 48; Friedländer, Bd. 9b, 1973,
S. 87, 114, Nr. 158, Taf. 172; Nicole Reynaud, Une Allégorie Sacrée de Jan Provost, in: La Revue du Louvre 25, 1975, S. 8 f., 14, Abb. 5, 16, Anm. 16; Craig Harbison, The Last Judgment in Sixteenth Century Northern Europe: A Study of the Relation between Art and Reformation, New York/ London 1976, S. 40, 115 f., 278, Nr. 69, Abb. 57; Gert Unverfehrt, Hieronymus Bosch. Die Rezeption seiner Kunst im frühen 16. Jahrhundert, Berlin 1980, S. 96, 216 f., 274, Nr. 92, Abb. 209; Max J. Friedländer, Von van Eyck bis Bruegel, Neuausgabe, hrsg. v. Günter Busch, Frankfurt/M. 1986, S. 124; Molly Ann Faries, The Underdrawing of Jan Provoost's Last Judgment and related Paintings, in: Le dessin sous-jacent et la technologie dans la peinture. Colloque VII, 1987, hrsg. v. Roger van Schoute, Hélène Verougstraete, Louvain-la-Neuve 1989, S. 140 f.; Joseph Leo Koerner, The Moment of Self-Portraiture in German Renaissance Art, Chicago/London 1993, S. 404 f., Abb. 189; Jean Michel Massing, Sicut erat in diebus Antonii. The Devils under the Bridge in the Tribulations of St. Antony by Hieronymus Bosch in Lisbon, in: Sight & Insight. Essays on Art and Culture in Honour of E. H. Gombrich at 85, hrsg. v. John Onians, London 1994, S. 122 f., Abb. 51; Ron Spronk, An Early Sixteenth Century Last Judgment by Jan Provoost, in: Le dessin sous-jacent et la technologie dans la peinture. Colloque XI, 1995, hrsg. v. Roger van Schoute, Hélène Verougstraete, Louvain-la-Neuve 1997, S. 46; Ron Spronk, Tracing the Making of Jan Provost's Last Judgment through Technical Examinations and Digital Imaging, in: Bulletin of the Detroit Institute of Arts 72, 1998, S. 68, Abb. 3, S. 79, Anm. 17.

Details zu diesem Werk

Dendrochronolog. Untersuchung liegt vor 67.9cm x 61.3cm (Bild) 80cm x 86cm (Rahmen) Hamburger Kunsthalle, erworben 1912 Inv. Nr.: HK-323 Sammlung: Alte Meister © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford

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